Rituelle Klänge von Vergangenheit und Gegenwart – collectif9 verzaubert mit „Rituæls“
Mit „Rituæls“ präsentiert das in Montréal ansässige Streichensemble collectif9 ein außergewöhnlich tiefsinniges Album, das die Zuhörer auf eine musikalische Reise von der mittelalterlichen Mystik bis in die Gegenwart entführt. Die Werke von Hildegard von Bingen, Arvo Pärt, Michael Tippett, Bryce Dessner, Jocelyn Morlock und dem Ensemble selbst schaffen eine Klangwelt, die das Ritualhafte in der Musik erforscht und dabei eine Brücke zwischen verschiedenen Epochen und Stilen schlägt. Jedes Werk ist durch subtile musikalische Fäden verbunden, ob durch Bordune, gehaltene Noten oder sich wiederholende Klangmotive. Dieses Album lädt dazu ein, sich in einer kontemplativen Atmosphäre zu verlieren, während sich die Stücke in fließenden Übergängen entfalten und die Seele in ihren Bann ziehen.
Das Streichensemble collectif9 besteht aus neun leidenschaftlichen Musikern, die mit ihrem innovativen Ansatz das klassische Konzertformat hinterfragen und neu gestalten. In ihren Programmen verschmelzen Tradition und Innovation, was sie zu einem spannenden Ensemble der zeitgenössischen Musikszene macht. Mit der Mischung aus exzellentem Handwerk, einem intuitiven Verständnis für Musik und einer klaren, mutigen Vision hat collectif9 bereits viele bedeutende Werke der klassischen und modernen Musik in einem neuen Licht erstrahlen lassen. Auf „Rituæls“ zeigen sie einmal mehr ihr Gespür für spannende Zusammenstellungen, indem sie das Spirituelle, das Meditative und das Zeremonielle durch die Auswahl der Stücke und die Art ihrer Darbietung thematisieren.
Das Album eröffnet mit dem Stück „Drone“, einer Eigenkomposition des Ensembles, die durch ihre schwebenden Klänge sofort eine meditative Stimmung erzeugt. Die repetitiven Muster wirken wie ein tiefer Atemzug, der die ritualhafte Atmosphäre des Albums von Anfang an etabliert. Diese Bordunklänge bilden auch die Basis für das folgende Werk „O vis æternitatis“ von Hildegard von Bingen. In dieser Interpretation wird die spirituelle Tiefe des mittelalterlichen Gesangs hervorgehoben, die sanften Streicherlinien entfalten eine entrückte, fast mystische Aura, die durch die einfühlsamen Viola Phrasen besonders intensiv zur Geltung kommt.
Es folgt Arvo Pärts „Psalom“, ein ruhiges, in sich gekehrtes Werk, das durch seine asketische Schlichtheit besticht. Die klare Struktur und das gleichmäßige Pulsieren der Streicher verleihen dem Stück eine zeitlose Eleganz, die das Ensemble mit großer Präzision und Sensibilität umsetzt. Nicole Lizées „Another Living Soul“ ist in seiner kontrastreichen Klanggestaltung ein spannender Bruch: Hier zeigen sich collectif9 von ihrer experimentellen Seite, indem sie komplexe rhythmische Muster und schillernde Klangflächen miteinander verweben. Die Energie, die dieses Werk ausstrahlt, ist förmlich greifbar und offenbart die Virtuosität des Ensembles.
Mit „Lament“ von Michael Tippett taucht das Album in melancholischere Gewässer ein. Die klagenden Melodien, vor allem in den solistischen Passagen, und die tiefe Resonanz der tiefen Streicher fangen die Trauer und gleichzeitig die Hoffnung des Stückes in ergreifender Weise ein. Im Gegensatz dazu steht Bryce Dessners „Aheym“, das mit seinen treibenden Rhythmen und dynamischen Wechseln förmlich vor Energie sprüht. Hier entfaltet collectif9 eine unerbittliche Kraft, die den Zuhörer in einen Sog aus rasanten Bewegungen und schwelenden Melodien hineinzieht.
Pärts „The Beatitudes“ präsentiert sich als klangliche Meditation, in der jede Note wie ein geflüsterter Gedanke wirkt. Die subtile Zurückhaltung, mit der das Ensemble dieses kurze, aber tiefgründige Werk interpretiert, lässt die Stille ebenso bedeutungsvoll erscheinen wie die gespielten Noten. Die anschließende Aufführung von Pärts „Summa“ ist geprägt von der schlichten Schönheit, die typisch für seine Werke ist. Klare, ineinander fließende Streicherstimmen schaffen eine Atmosphäre, die an sakrale Gesänge erinnert und die kontemplative Stimmung des Albums weiter verstärkt.
Mit Jocelyn Morlocks „Exaudi“ wird der Hörer in eine düstere, aber gleichzeitig erhebende Klangwelt entführt. Die solistischen Cello-Passagen verleihen dem Stück eine melancholische Tiefe, die durch das fein abgestimmte Zusammenspiel des Ensembles noch intensiviert wird. Der Kontrast zwischen den dunklen, brodelnden Klangschichten und den lichteren Momenten verleiht dem Werk eine dynamische Spannung. Das Album schließt mit Bryce Dessners „Tenebre“, das den Hörer in tiefe klangliche Dunkelheit führt. Die langsamen, drängenden Streicherklänge bauen eine unheimliche, fast körperliche Präsenz auf, die das Album auf eindrucksvolle Weise abrundet und das rituelle Thema des Albums in einer letzten, intensiven Klangmeditation beschließt.
Mit „Rituæls“ hat collectif9 ein Album geschaffen, das in seiner Dramaturgie und musikalischen Vielfalt beeindruckt. Die kunstvolle Verknüpfung von Stücken aus verschiedenen Epochen und ihre fesselnde Interpretation lassen den rituellen Charakter der Musik deutlich hervortreten. Jede Komposition erhält durch das Ensemble eine eigene, tief empfundene Farbe, und gemeinsam formen sie eine Klanglandschaft, die den Zuhörer auf eine intensive, fast spirituelle Reise mitnimmt.
Dirk Schauß, im Oktober 2024
Rituæls
collectif9
Analekta, AN955