CD RICHARD WAGNER: SIEGFRIED – Live Aufnahme aus der Münchner Isarphilharmonie am Gasteig vom Februar 2023; SIMON RATTLE dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks; BR-Klassik
Hochkarätiges Album zum Amtsantritt in München
„Manches ist so experimentell, dass selbst Wagner es nie wieder gemacht hat. Und gerade das hört man erst so richtig in einer konzertanten Aufführung, wenn das Orchester nicht im Graben versteckt ist. Denn über weite Strecken ist es ein Konzert für Orchester… Man hört, wie das moderne Orchester geboren wird.“ Sir Simon Rattle
Damit ist der Tonus für den Zweiten Tag aus „Der Ring des Nibelungen“ gesetzt. Rattle ist einer der wenigen Dirigenten, die es vermögen, Orchester und Stimmen in einem von der ersten bis zur letzten Note packenden erzählerischen Fluss zu vereinen, den Seelenregungen der Figuren im Orchester nachzuspüren, die „Instrumente mit den Sängern sprechen zu lassen.“ Nach „Rheingold“ (2015) und „Die Walküre“ (2019) ist Rattle ganz im Wagnerschen Klangkosmos angekommen. Und dafür steht ihm mit dem rundum prächtig disponierten Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks der goldrichtige Klangkörper zur Verfügung, in dem nicht von ungefähr ca. 25 Leute sitzen, die im Sommer regelmäßig in Bayreuth spielen.
In der Figur des Siegfried sieht Rattle nicht den einfach gestrickten Kraftlackel, sondern einen nachdenklichen Heranwachsenden, der von großer Einsamkeit und Zweifeln geprägt ist und in den Siegfried psychologisierenden Orchesterklängen „viel mehr Musik, die von Schubert herkommt, als man glauben möchte.“ Auch Alberich und Mime nimmt Rattle nicht als nur böse und verachtenswert wahr: „Alle diese Figuren sind komplex, schwierig und dunkel. Und sie sind Erscheinungsformen dieses unmöglichen Menschen Richard Wagner. Unmöglich und brillant. Ein Genie als Komponist.“
In vielerlei Hinsicht instrumental fokussiert, ist es kein Wunder, dass Rattle allen bis ins kleinste Detail ausgeklügelten Klangzauber im „Waldweben“, den Vorspielen und im Orchesterzwischenspiel im dritten Akt zu entfalten weiß. Was ihn vielleicht von anderen Dirigenten unterscheidet, ist das Schärfen der Kontraste, das abrupte Aufeinander im Wechsel von kammermusikalischer Durchhörbarkeit, lyrischer Schönheit und den „Explosionen von Energie und Klang“. Rattle weiß natürlich, dass er auf die Grenzen der Sänger achten muss, lässt aber auch mal das „Orchester von der Leine“, kostet die „ausgefahrenen Ellbogen und Kanten“ der Partitur voll aus. Als mit Sympathie und Verständnis arbeitender Orchesterperfektionist beherrscht Rattle die hohe Illusionskunst, Wagners Szenen zu muskulös bewegten Skulpturen zu formen, die vielen Fäden der Leitmotive erzählerisch spannend im Netz der Klangwerdung zu separieren. Oper ersteht so – auch ohne Bühnenszenerie – als abstrakte Form einer ins Innere des Hörers gewandten Kinematographie.
Die Besetzung mit einem stimmlich unerschöpflichen Simon O’Neill in der Titelpartie, dem markant-virilen Michael Volle als rätsellustigem Wanderer, der strahlenden Anja Kampe als Brünnhilde und dem schwarzdüsteren Bass des Franz-Josef Selig als auf seinem Gold sitzender Drache Fafner, ist das, was heute als erste Liga im Wagnergesang bezeichnet werden darf. Für Georg Nigl war es die erste Erfahrung mit der Rolle des Alberich, die der Bariton finessenreich-bravourös und ausdrucksintensiv bis zur Zerrfratze meisterte. Peter Hoare legte als Mime ein scharfzüngiges, charaktervolles und sensationell vielschichtiges Rollendebüt hin. Damit hat sich der britische Charaktertenor an die Weltspitze in diesem Fach katapultiert. Die primär im Konzertfach beheimatete Altistin Gerhild Romberger ist in einem ihrer seltenen Opernauftritte als Erda zu erleben. Die griechische Koloratursopranistin Danae Kontora reüssierte als lieblich zwitschernder Waldvogel.
In Rattle und seinen Mitstreitern findet „die mit dramatischste, farbenreichste und berückendste Musik, die Wagner je geschrieben hat“, eine berauschende und als tragikomisches Satyrspiel schillernde Interpretation. Dass da zwischen allen Beteiligten die Chemie stimmt, ist nicht zu überhören. Inzwischen hat Sir Simon Rattle seine Chef-Position beim Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Haydns „Schöpfung“ und Mahlers „Sechster“ angetreten. Als konzertante Oper ist in der Saison 2023/24 „Idomeneo“ programmiert. Hoffentlich ist der Abstand zwischen „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ kürzer als dies bei den vorhergehenden Ringteilen der Fall war. Dieser jetzt schon so einzigartige „Ring“ in stupendem Sound harrt seiner Vollendung.
Dr. Ingobert Waltenberger