CD RICHARD WAGNER: SIEGFRIED – Erstveröffentlichung des Mitschnitts des Bayerischen Rundfunks vom 12. August 1955; Hänssler Profil
Berührend und unvergleichlich: Brünnhilde Martha Mödl und Siegfried Wolfgang Windgassen in tosend erwachender Liebe
Diamantene Wagner-Ära: Es war die musikalische Sensation der Jahre 2006/07. Das Label Testament hatte den „Keilberth-Ring“ aus dem Jahr 1955, die allererste Stereoaufnahme von Wagners Zyklus u.a. mit Hans Hotter, Astrid Varnay, Wolfgang Windgassen, Ramon Vinay, Josef Greindl und Paul Kuën als musikalisch und klanglich mit die beste Aufnahme, der je auf dem Markt erschienen ist, beworben. Die Erstveröffentlichung der Gesamtaufnahme von Wagners Ring des Nibelungen nach über 50 Jahren war auch deshalb eine so tolle Sache, weil von der damals mit Toningenieuren gesegneten Firma DECCA unter der Leitung von Peter Andry und mit den genialen Technikern Kenneth Wilkinson und Roy Wallace sowie mit Gordon Parry als Assistent aufgenommen, ein klangliches Resultat erzielt wurde, dass das Gros von vielen Jahrzehnte später entstandenen Live Aufnahmen des Rings, sei es wo auch immer, von der Brillanz des Orchestertons und der Natürlichkeit der Stimmen her in den Schatten stellt. Mit einem von Wallace erfundenen Sechs-Kanal-Mischer stellte das Team sowohl Stereo- als auch Mono-Aufnahmen des Vorspiels und der drei Teile des Rings her. Drei Mikrofone waren im versenkten Orchestergraben platziert, und drei weitere hingen von einer Beleuchtungsbrücke etwa 6 m oberhalb der Bühne.
Es gab im Jahr 1955 auch einen zweiten Zyklus, wie den Booklets von Testament zu entnehmen, der ebenfalls von DECCA sicherheits- und interessenhalber mitgeschnitten wurde. Vor allem in der Besetzung der Brünnhilde mit Martha Mödl bot er eine reizvolle künstlerische wie vokale Alternative. Testament veröffentlichte 2009 von diesem zweiten, in Stereo mitgeschnittenen Ring „Die Walküre“ (11. August 1955) und die „Götterdämmerung“ (14. August 1955).
Jetzt erfolgt mit der ersten vollständigen Publikation des „Siegfried“ vom 12. August 1955, der nebstbei auch der Todestag von Thomas Mann war, basierend auf den Originalbändern des Bayerischen Rundfunks, der Lückenschluss dieses Rings, zumindest was die letzten drei Opern anlangt.
Schon 2022 hatte Hänssler Profil als Hommage zum 100. Geburtstag von Martha Mödl den dritten Akt genau aus diesem „Siegfried“, kombiniert mit dem zweiten Akt „Parsifal“ mit Mödl/Vinay vom 16. August 1955 als Doppel-CD auf den Markt gebracht. Was mir an den Mitschnitten des Bayerischen Rundfunks der Zeit ganz außerordentlich gefällt, ist die Präsenz und Unmittelbarkeit der Stimmen etwa im Gegensatz zum „Solti-Ring“, wo das Orchester relativ gesehen in den Vordergrund gerückt wirkt, offen zum Ärgernis vor allem einer beteiligten Starsängerin….
Im interessanten Booklet-Aufsatz von Bernd Zegowitz mit dem Titel „Griechische Germanen – Wieland Wagners Bayreuther Siegfried“ ist von der interpretatorischen Entwicklung der Regie Wieland Wagners zu lesen, der nach und nach auf Requisiten verzichtete, den „Ring entmaterialisierte“.
Gerade als Siegfried-Brünnhilde schätze ich Martha Mödl im direkten Vergleich etwa zur heroischeren Varnay oder der die Spitzentöne des Duettschlusses „Heil Dir Sonne, heil Dir Licht“ trompetenfanfaren schmetternden Nilsson ganz besonders. Mödl selbst hatte beschrieben, die Partie läge ihr von der Tessitura her unbequem. Und dennoch gelingen ihr 1953 oder besonders aufregend 1955 die fraulich wärmsten und glühendsten Töne, die je von einer Brünnhilde gesungen wurden. Das ist nicht mehr das freche, mutige Wotanskind der Walküre. Im „Siegfried“ erwacht eine junge Frau zu ihrer großen reifen Liebe mit all den Ängsten, Zweifeln, all dem zart aufblühenden Entzücken und der naiv wissenden Unschuld, die mit einer solchen, das Dasein existenziell erschütternden Begegnung verbunden sind.
Diese Entwicklung vollzieht Martha Mödl mit dem stimmlich kontrastreich zu dem dunklen Timbre der Sängerin passenden Wolfgang Windgassen als Partner in top Form mit einer stimmlichen Farbenpracht und einem am Wort ausgerichteten Differenzierungsvermögen, die bis dato inegalisiert blieben. Kein einziger Ton der Mödl wollte vordergründig effektvoll sein, sondern ihr Gesang stand ganz im Zeichen einer ins Mark reichenden seelischen Charakterisierungskunst. Die Intensität der Interpretation rührte daher, dass diese hochdramatische Sängerin mit damals stupender Höhe und resonanzreicher Kontraalttiefe in der Lage war, alle im Werden seienden widerstreitenden Emotionen dieser urweiblichen und unbedingten Liebe in einen Kosmos an Stimmfarben zu tauchen. Und das ohne Berücksichtigung von natürlichen stimmlichen Limits, ohne stimmökonomische Kalkulation, ohne Rücksicht auf Verluste, wenn man so will. Da bleibt die überlebensgroße Heroine, die die in ihrer Liebe Gescheiterte in der Götterdämmerung sein wird, komplett außen vor.
Fruchtbringend und im spontanen Ausdruck potenzierend dürfte auch die künstlerisch innige Partnerschaft zum Dirigenten Joseph Keilberth, meinem neben Karajan persönlichen Wagner Lieblingsdirigenten, gewesen sein. Ähnlich wie Wilhelm Furtwängler wusste er Tempi spontan und überraschend zu schürzen, kraftvolle Akzente zu setzen, das Orchester traumwandelnd instinktiv mit dem Ring-Mythos eins werden zu lassen.
„Im Schlafe liegt eine Frau, die hat ihm das Fürchten gelehrt“: Mödl ist vom ersten Kuss, im Erwachen aufnebelden „Heil Dir Sonne, Heil Dir Licht“ dieses sich aus der Galaxie der Götter nach und nach lösende Wesen. In 30 Minuten erlebt sie in rasanter Steigerung bis zum von einem hohen C gekrönten ekstatischen Schluss die auf jeden Schutz verzichtende Macht von Liebe zu dem Mann, dem sie als Ungeborenen das Leben rettete. Schließlich lässt das „traurige Weib“ alle Risiken, alle Vorsicht weit hinter sich. Das ängstliche Wutleuchten in der Stimme, wenn Mödl mit „Kein Gott nahte mir je, der Jungfrau neigten scheu sich die Helden“ ihren Status preisgibt, verbindet sich mit dem knisternden Aufruhr, den Keilberth aus dem Orchester holt. Nach vorübergehenden Schreckgespinsten, der Furcht vor Schande, der völligen Preisgabe ihrer innersten Ängste, der Bitte „die Traute nicht zu zertrümmern“, schwingt sich diese Brünnhilde auf zu einer sich im Orchesterrausch spiegelnden jauchzenden, in feuriger sexueller Hingabe gipfelnden Liebe. Wie beim „Bungee Jumping“ öffnen sich dieser Brünnhilde in den letzten Minuten des Duetts die Abgründe der Leidenschaft. Alles egal. Mit Isoldenglut und totaler vokaler Entfesselung stürzt sie sich in die „leuchtende Liebe“, den „lachenden Tod“. Gänsehaut, sooft ich das höre, und hoffentlich genussreicher Stoff für alle Neugierigen.
Auch rundherum ist diese Aufnahme ein Stimmeneldorado. Allen voran Hans Hotter als selbst im „Karriere-Sturz“ noch ehrfurchtgebietender Wanderer, Paul Kuën als raffiniert böser, niemals outrierender Mime, Gustav Neidlinger als der beste Alberich aller Zeiten, Maria von Ilosvay als dunkle Erda und Ilse Hollweg als Waldvogel.
Dr. Ingobert Waltenberger