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CD RICHARD STRAUSS Symphonische Dichtungen und andere Werke für Orchester – ANDRIS NELSONS dirigiert das BOSTON SYMPHONY ORCHESTRA und das GEWANDHAUSORCHESTER LEIPZIG; Deutsche Grammophon

07.05.2022 | cd

CD RICHARD STRAUSS Symphonische Dichtungen und andere Werke für Orchester – ANDRIS NELSONS dirigiert das BOSTON SYMPHONY ORCHESTRA und das GEWANDHAUSORCHESTER LEIPZIG; Deutsche Grammophon

Klangopulenz mit Biss und genießerisch audiophilen Höhenflügen

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In den 70-er Jahren waren es Rudolf Kempe und die Dresdner Staatskapelle, die in Sachen Symphonische Dichtungen, aber auch Konzerte von Richard Strauss Referenzen an Orchesterkultur, Klangbalance mit ganz persönlicher Dynamik, Transparenz und Temporegie vorlegten. Hochwertige und auf ihre Art empfehlenswerte Beiträge dieses Repertoires auf Tonträgern lieferten später bei Oehms Classics Generalmusikdirektor Sebastian Weigle mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester (Live Aufnahmen) sowie Francois-Xavier Roth mit dem Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Alles deutsche Orchester, die ihren Ruf als technisch und künstlerisch erstklassige Klangkörper mit diesen Boxen ein weiteres Mal behaupten konnten.

Der lettische Dirigent Andris Nelsons ist Gewandhauskapellmeister des Leipziger Gewandhausorchesters sowie Chefdirigent und Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra. In diesen Funktionen hat er künstlerische Allianzen und menschliche Brücken über den Atlantik hinweg gebaut, die einmalig sein dürften. So gibt es jährlich eine Leipzig week in Boston und eine Boston-Woche in Leipzig. Damit nicht getan, werden Gastkonzerte und Tourneen auf gegenseitiger Basis geplant. Den vorläufigen Gipfel dieser Zusammenarbeit bilden jedenfalls die Erarbeitung und Einspielung von Orchesterwerken des Richard Strauss.

Auf sieben CDs ist nun das Ergebnis der im Zeitraum 2017 bis 2021 eingespielten Stücke zu bewundern. Wie schon bei Anton Bruckner bevorzugt Nelsons überwiegend breite Tempi mit mächtig aufgefächerten Klangeffekten. Er ist – ähnlich wie einst Hans Knappertsbusch – ein Meister im allmählichen Aufbau von Spannungen und gewittrig donnernden Klangentladungen. Nelsons höchstpersönliche Marke sind darüber hinaus eine spezielle Mixtur an orchestraler Transparenz mit kammermusikalisch gepflegten Soli und abrupt in den akustischen Lichtstrahl manövrierten Instrumentengruppen.

Vom Klangcharakter und der Tradition her könnten die zwei Edelorchester kaum unterschiedlicher sein. Trumpfen die Bostoner mit satten Streichern (Celli!) und funkelndem Blech auf, so legen die Leipziger größeren Wert auf feingliedrige Durchhörbarkeit, einen schlanken Sound und einen insgesamt helleren Klang. Wer so wie ich das Rauschhafte und den Überschwang in der Musik von Richard Strauss über alles liebt, der wird von den Bostonern optimal bedient werden. Selten habe ich außerdem klangtechnisch brillantere, wuchtigere sowie von der Tiefenstaffelung her dreidimensionalere Aufnahmen gehört als „Eine Alpensymphonie“, „Don Quixote“ mit dem Cellisten Yo-Yo Ma als Solisten, „Tod und Verklärung“ und die „Sinfonia domestica“. Mit den Leipzigern wählt Nelsons bei „Ein Heldenleben“ und „Also sprach Zarathustra“ ungewohnt breite Tempi. In der sinfonischen Fantasie „Aus Italien“ lässt Nelsons lautmalerisch die Campagna, Roms Ruinen, den Strand von Sorrent sowie das neapolitanische Volksleben mit Anklängen an den Schlager ‚Funiculi-Funicula‘ Gestalt annehmen.

Die Aufteilung der Stücke auf die beiden Orchester erfolgte nicht willkürlich, sondern folgt einer historischen Logik. Nelsons: Die Aufnahme des „Don Quixote“ ist eine Reverenz an Strauss‘ eigene Aufführung des Werks in Boston, ebenso wie die Liebesszene aus der Oper „Feuersnot“. Die „Sinfonia domestica“ hat Strauss wiederum 1904 im Rahmen seiner USA Tournee in New York zur Uraufführung gebracht. Bei den Leipziger Aufnahmen beziehen sich „Salomes Tanz“ und die „Rosenkavalier-Suite“ auf die Operntradition des Gewandhausorchesters, die „Burleske“ (Yuja Wang Klavier) auf den jugendlichen Überschwang des jungen Strauss, der in Leipzig erst noch Fuß fassen musste und der Schlagoberswalzer auf die Leipziger Uraufführung der Orchester-Suite.

Auf CD 7 gibt es eine wundersame Rarität. Die Bostoner und das Gewandhausorchester Leipzig mit Olivier Latry als Solist haben gemeinsam in der Boston Symphony Hall das „Festliche Präludium für Orgel und Orchester“ eingespielt.

Die Box ist ein Muss für jeden Liebhaber der Strauss‘schen Orchesterkultur, ihres bodenständigen Humors, ihrer unüberbietbaren Eleganz und ihres brillanten Instrumentierungsschliffes. Außerdem überwältigen vor allem die Aufnahmen aus der akustisch phänomenalen Bostoner Symphony Hall mit einer olympischen audiophilen Klangqualität. Süchtig könnte man werden!

Jetzt gibt es nach und neben Kempe unter zwei künstlerisch gleichwertigen Referenzen zu wählen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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