CD RICHARD STRAUSS „EINE ALPENSYMPHONIE“ – VLADIMIR JUROWSKI dirigiert das RUNDFUNK-SINFONIEORCHESTER BERLIN; Pentatone
Live Aufnahme aus dem Konzerthaus Berlin, Februar 2019
Sind wir nicht bei den bekannteren Tondichtungen von Richard Strauss durchaus gut bedient mit den Spitzen-Aufnahmen von Karajan über Böhm, Fritz Reiner, Kempe bis zu Maazel, um nur einige zu nennen? Natürlich gab es in der Vergangenheit solche klanglich und musikalisch exzellente Alben, die das Herz vieler Musikfreunde hoch und höherschlagen lassen. Aber zeigen nicht gerade die neuen Annäherungen von Francois Xavier Roth oder Andris Nelsons, dass etwa auch bei der „Alpensinfonie“ die Geschichte der Interpretationen längst nicht zu Ende ist?
In eine solche, die Partitur frisch hinterfragte Lesart und die Hörgewohnheiten dehnende Kerbe schlägt auch Vladimir Jurowskis jüngst publizierte Aufnahme von Richard Strauss‘ musikalischer Hochglanz-Ansichtskarte überwältigend erhabener Berge. Vielleicht dienten als Vorbild diejenigen wie die Zugspitze, die der Tonschöpfer von seinem eigenen Haus im bayerischen Garmisch-Partenkirchen betrachten konnte. Soll man sich nicht mit der alle Sinne kitzelnden programmatischen Klangwerdung felsiger Höhn vom Sonnenaufgang bis zum Untergang, und inmitten der irrlichternd gewittrigen Natur dem wander-kletternden Menschen vom Gipfelaufstieg bis zum Abstieg samt Gewitter zufriedengeben?
Kann man, muss man aber nicht. Ursprünglich wollte Strauss das Werk frei nach Friedrich Nietzsche „Der Antichrist“ nennen und die Sinfonie sollte nach den Worten des Komponisten „die moralische Läuterung durch eigene Kraft, die Befreiung durch Arbeit und die Anbetung der ewigen herrlichen Natur“ darstellen. Jurowski wiederum betont das aus der Musik reifende Gefühl einer stoischen Lebensanschauung, einer vergänglichen, ja flüchtigen Erfahrung von Natur, die Strauss als unendliche Schönheit feiert, aber vorbeiziehen lässt, ohne sie festhalten zu wollen. Das von Strauss so empfundene Gesetz der Natur „Kein Leben nach dem Tod, es existieren nur das Sein und der Zustand des Nichtseins“ sieht Jurowski nicht im Widerspruch dazu, dass es sich um ein Werk „in spezifischer, detaillierter, veredelter, flüchtiger Schönheit handelt und gleichzeitig in dem fast übertheatralischen Streben des Individuums schwelgt.“ Jurowski interessieren zudem die übergeordneten tonalen Strukturen, die „weit über das episodische, frei assoziierte musikalische Gemälde hinausgehen.
Leicht tat sich Strauss mit seiner Alpensinfonie nicht, wie er in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal gestand: „Ich quäle mich inzwischen mit einer Symphonie herum, was mich aber eigentlich noch weniger freut wie Marienkäfer schütteln.“ Am Ende war er damit aber doch zufrieden.
Wir sind es auch. Die meisterliche Partitur erfährt unter der sensiblen Stabführung von Vladimir Jurowski eine schlanke, von hoher Transparenz im komplexen Stimmengeflecht des Orchesters getragene Wiedergabe. Jurowski, ein Seismograph unserer Zeit und ein Unsentimentaler unter den jungen Pultstars, verzichtet gänzlich auf plakativen Pomp. Den Bogen von Nacht zu Nacht, von einem behänden Hinauf und dem donnerblitzenden Hinunter spannt er nicht als bloße lautmalerische Beschallung von Naturphänomenen, sondern hat den Menschen als erkennenden Mittler im Sinn. Der subjektive Blick auf das, was uns umgibt, die Natur und ihre Mächte, fällt letztlich auf das eigene Leben. So wird die Natur zur Metapher unseres eigenen Seins, der Gang auf den Berg und der Abstieg bis zur vollkommenen Ruhe ein Gleichnis der Zeit, die wir durchschreiten. Könnte einem hier nicht eine Parallele zum später entstandenen Lied „Im Abendrot“ einfallen? „O weiter, stiller Friede! So tief im Abendrot. Wie sind wir wandermüde – Ist dies etwa der Tod?“
Das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin ist genau der richtige Klangkörper, um Jurowskis Intentionen zu realisieren. Am besten ist der Musik und ihrer Wirkung gedient, wenn die Strukturen von allen Seiten beleuchtet werden und gleichzeitig bei brillanter Tongebung und charaktervollen Einzelstimmen von Sinn und Schönheit der Partitur künden. Diese „Alpensinfonie“ gehört zu jenen erfreulichen Aufnahmen, bei der auf noch beim dritten Hören neue Facetten erlauscht werden können und daher niemals langweilig werden.
Dr. Ingobert Waltenberger