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CD: Richard Flury Orchestral Works Vol. 4 Melancholie, Licht und Berge – Die poetische Welt des Richard Flury. Toccata Classics, TOCC0727

06.05.2025 | cd

Melancholie, Licht und Berge – Die poetische Welt des Richard Flury

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Wer Richard Flury hört, begegnet einem Komponisten, der in keiner Musikgeschichte zwischen den Großen genannt wird – und doch alles hatte, was große Musik ausmacht: Gespür für Farbe, Sinn für Form, Leidenschaft im Ausdruck. Der Schweizer, geboren 1896 in Biberist und gestorben 1967, lebte ein Leben zwischen Berufung und Beruf: Als Lehrer, Geiger, Dirigent – und eben als Komponist – schuf er ein bemerkenswert umfangreiches Œuvre, das von Opern und Kammermusik bis hin zu einer ganzen Reihe von Sinfonien reicht. Seine Sprache war spätromantisch, doch nie epigonal; vielmehr durchdrungen von einem unverwechselbaren Tonfall, in dem sich volksmusikalische Wurzeln, französischer Esprit und österreichischer Monumentalstil zu einem persönlichen Idiom verdichteten.

Mit der vierten Folge der Reihe Richard Flury – Orchestral Works setzt das Label Toccata Classics sein verdienstvolles Editionsprojekt fort und bringt zwei Werke zur Geltung, die unterschiedlicher kaum sein könnten – und dabei umso deutlicher machen, wie weit Flurys Ausdrucksspektrum reichte: Die Sinfonie Nr. 2 in d-Moll, 1934 vollendet, trägt den Beinamen „Ticino“ – eine Hommage an jene südliche Landschaft, in die sich Flurys Familie nach dem Zerbrechen seiner ersten Ehe zurückgezogen hatte. Der Komponist blieb in Solothurn, unternahm aber regelmäßig Besuche bei seiner Frau und den vier Kindern in Lugano. So sehr ihn der Verlust schmerzte, so sehr begann ihn das Tessin zu inspirieren: das milde Licht, die herbe Berglandschaft, der mediterrane Atem, der dort alles durchdringt.

Und so ist diese Sinfonie ein Stück, das nicht nur musikalische Motive verarbeitet – etwa das Glockenspiel der Dorfkirche und drei überlieferte Volkslieder –, sondern auch ein Werk, das ein persönliches Kapitel in Klang verwandelt. Man hört eine Art innere Annäherung, eine Versöhnung vielleicht. Formal orientiert sich Flury an Bruckner: vier Sätze, architektonisch gedacht, mit klaren Blöcken, Steigerungen, Ruhepolen. Doch der Tonfall ist leichter, durchsichtiger, farbenreicher. Das BBC Symphony Orchestra unter Paul Mann findet hier zu einer wunderbar atmenden Interpretation, die sich Zeit lässt für Details, ohne den großen Atem zu verlieren.

Besonders der zweite Satz – ein Andante – gerät zum inneren Höhepunkt. Hier offenbart sich Flurys Fähigkeit zur lyrischen Verdichtung, zur stillen Innigkeit. In den Ecksätzen hingegen gibt es viel rhythmische Energie, Volksliedhaftes, tänzerisch Sprödes, das sich mit orchestraler Sinnlichkeit verbindet. Die orchestrale Handschrift erinnert bisweilen an Flurys engen Freund Joseph Marx, besonders in der üppigen Behandlung der Streicher, im klanglichen Schimmern und den subtilen harmonischen Färbungen.

Ganz andere Saiten schlägt das „Poème nocturne“ an – ein Einzelstück, das seinen Namen zu Recht trägt: keine Landschaft des Tessin, sondern eine der Seele. Traumverloren, schattenhaft, gelegentlich eruptiv – ein psychologisches Tongemälde, das entfernt an Richard Strauss’ symphonische Dichtungen erinnert, zugleich aber ein typisch schweizerisches Maßhalten kennt, das sich nie in lärmender Pose verliert. Auch hier zeigt Paul Mann eine sichere Hand für Dramaturgie und Farbenbalance: Er entfaltet die inneren Spannungsbögen mit Geduld, das BBC Symphony Orchestra glänzt mit kultivierter Klangkultur, ziseliert selbst Nebenstimmen mit Noblesse und Sinn für Flurys feine Texturen.

Die Tontechnik von Toccata Classics trägt ihr Übriges bei: weiträumig, warm und voll, ohne übertriebene Effekte. Die dynamische Spannweite bleibt erhalten, selbst im zartesten Pianissimo verliert sich kein Detail.

Diese CD ist mehr als eine Wiederentdeckung. Sie ist ein leiser Triumph der Kontinuität, des Beharrens auf Ausdruckskraft jenseits modischer Strömungen. Richard Flury erweist sich als Komponist, der die Seele seiner Heimat – und seiner selbst – in Musik gegossen hat. Und wer genau hinhört, wird belohnt mit einer klanglichen Welt, die reich ist, berührend und in jedem Takt authentisch.

Dirk Schauß, im April 2025

Richard Flury

Orchestral Works Vol. 4

Toccata Classics, TOCC0727

 

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