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CD RICHARD FLURY „DIE HELLE NACHT“ – Weltersteinspielung aus der Lokhalle Göttingen Mai 2021, Toccata Classics

22.11.2021 | cd

CD RICHARD FLURY „DIE HELLE NACHT“ – Weltersteinspielung aus der Lokhalle Göttingen Mai 2021, Toccata Classics

„Eitel Gaukelspiel, wie man durchs Leben pilgert Hand in Hand und hält dich jeder unverwandt ein süss‘ Geheimnis, bis in den Tod“ Der Arzt

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Nur einmal erklang die spätromantische, 1932-1934 entstandene Oper des Schweizer Komponisten Richard Flury. Das war anlässlich einer konzertanten Aufführung 1935 unter der Leitung von Christof Lertz, die auch vom Radio Bern ausgestrahlt wurde. Auf der Bühne war das Werk bis heute nicht zu sehen. Der damalige österreichische Botschafter in der Schweiz, der das Werk im Radio gehört hatte und den Librettisten Paul Zifferer (er war von 1918 bis zu seinem Tod 1929 Presse-Attaché an der Österreichischen Botschaft in Paris) persönliche kannte, setzte sich beim Direktor der Wiener Staatsoper Felix Weingartner für eine szenische Produktion ein. Der war zwar begeistert, wollte sich aber erst zwei Jahre später um die Oper kümmern. Da aber war es schon zu spät: Der Kurzzeit-Operndirektor Weingartner, der auch Dirigent und Komponist von acht Opern und sieben Symphonien war, emigrierte 1936 aus politischen Gründen in die Schweiz. Das war’s dann bis 2017, als der Dirigent der Aufnahme, Paul Mann, vom Flury-Biographen Chris Walton kontaktiert wurde, der wiederum gemeinsam mit Flurys Sohn Urs Joseph plante, eine kritische Ausgabe mit Blick auf eine Aufnahme zu erstellen. Dann kam noch Covid dazwischen. Dennoch gelang es im Mai 2021, die Einspielung mit dem Göttingen Symphony Orchestra, dem Gärtnerplatz Kammerchor sowie einer beinahe 20-köpfigen Solisten schar zu realisieren.

Der vor allem in Solothurn als Dirigent des Stadtorchesters wirkende Allroundmusiker war ein Spätromantiker alter Schule, der jedoch bis zum Anschlag der Tonalität experimentierte und eine schillernd impressionistischen Klangsprache pflegte. Als Komponist war er in allen Gattungen äußerst produktiv und schrieb Opern, Symphonien, Ballette, Instrumentalmusik, geistliche und weltliche Chöre, Kammermusik und Lieder. 

Die kompakte Handlung der Oper “Die helle Nacht”, die sich örtlich auf das Haus des Arztes beschränkt, setzt im Jahr 1514 an: Die englische Prinzessin Mary trifft am Hof des alten französischen Königs Ludwig XII. ein. Nur in dieser einzigen Nacht genießen Frauen Freizügigkeit und sind ihren männlichen Pendants keine Rechenschaft darüber schuldig, was sie anstellen. Da gibt es als Hauptfigur den mit der jüngeren Solange verheirateten, eifersüchtigen Arzt, in die auch sein Schüler Robert verliebt ist. Die kluge Solange geht auf die Schwärmerei nicht ein und schickt den Verehrer zu seiner Geliebten Céline zurück. 

Dann bewegt sich die Handlung der Oper auf für heutige Begriffe doch bizarren Pfaden: In der Hochzeitsnacht des Königs wird dem Arzt eine “Leiche” eines erstochenen Ritters als Geschenk vom Herzog von Valois gebracht. Für wissenschaftliche Zwecke versteht sich. Der Ritter lebt aber, wird ärztlich versorgt und schließt bei Wein rasch Freundschaft mit dem Arzt. Der temperamentvolle und sinnliche Rittersmann beginnt von der Vergangenheit, vor allem seinen amourösen Abenteuer, zu erzählen. Nur eine Frau blieb dem Lebemann unvergesslich. Sie erraten schon, es war Solange. Ein halbherziger Vergiftungsversuch des Arztes scheitert, der Ritter zieht seines Wegs. Als Solange ihren Mann spätnächtens beunruhigt im Sezierraum aufsucht, erklärt der Arzt nur, er hätte geträumt. Die Moritat: Jeder in einer auch noch so guten Beziehung hat ein Geheimnis. Am Ende ist jeder Mensch einsam. Mit dem Klang der Glocken von Notre Dame Ende die Oper. 

Paul Mann hat für das Booklet einen ausführlichen und sehr lesenswerten Aufsatz über die Wiederentdeckung dieser vergessenen zweiaktigen Oper verfasst. Er charakterisiert die Oper als poetisches und dennoch lebenssprühendes Psychodrama. Flury war ein Meister der Instrumentierung, der wie Alban Berg den Wiener Walzer aus dramatischen Gründen vielfach einsetzte. Leitmotive verwendet Flury nicht, “stattdessen webt er in seine Partitur ein ausgeklügeltes Netz von wiederkehrenden musikalischen Ideen und Klängen ein, die das sich entwickelnde Drama verstärken und langfristige strukturelle Bezugspunkte bilden.” 

Die auf jeden Fall hörenswerte Musik reminisziert viel aus der üppigen Klangwelt der Jahrhundertwende, wobei die Orchesterbesetzung wesentlich schlanker ist als bei Mahler oder Strauss. Gesungen wird überwiegend sehr gut, generell textverständlich, stets intensiv und der inneren Seelenlage der Figuren adäquat. Julia Sophie Wagner ist eine lyrisch leuchtende Solange, die mit ihrem in der Mittellage wunderbar timbrierten Sopran sehr bewegend eine Frau darstellt, die wie die Marschallin im Rosenkavalier über das Altern sinniert. Der ganz schön beherzt an die Sache gehende Student, Monsieur Robert, wird vom wenig jugendlich klingenden, in den dramatischen Höhen überforderten Dresdner Tenor Eric Stoklossa verkörpert. Der deutsche Bariton Daniel Ochoa begeistert als introvertierter Arzt mit fülliger samtener Stimme, den Text deutet er nuanciert in allen Facetten aus. Der Ritter wird vom dänischen Heldentenor Magnus Vigilius mit metallisch heller, perfekt fokussierter Stimme gesungen (am 27.11. wird er in der Premiere von Janaceks “Katja Kabanova” an der Komischen Oper Berlin mitwirken). Vom Stimmtyp und der Sicherheit in der hohen Lage her erinnert er verblüffend an Klaus Florian Vogt. Stephanie Bühlmann und Ogulcan Yilmaz gefallen in den kleineren Rollen der Céline und als Herold/Narr.

Grandios und der ganz große Vorzug der Aufnahme ist, was Paul Mann aus dem Göttingen Symphony Orchestra alles an rauschhaften Farben, dramaturgisch punktgenau gesetzten Effekten und klanglicher Plastizität herauslockt, um die prächtige Partitur vor unseren Ohren in aller Schönheit auszubreiten. 

Tipp: Beim Label Toccata sind weitere Werke Flurys unter der künstlerischen Leitung von Paul Mann erschienen: Der Opernerstling “Die florentinische Tragödie”, die Ballettmusik “Der magische Spiegel” und das dritte Violinkonzert.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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