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CD REYNALDO HAHN: Lieder Gesamtaufnahme – TASSIS CHRISTOYANNIS; Palazzetto Bru Zane

22.10.2019 | cd

CD REYNALDO HAHN: Lieder Gesamtaufnahme – TASSIS CHRISTOYANNIS; Palazzetto Bru Zane

Was für ein sagenhaftes Leben: Reynaldo Hahn war Komponist, Pianist, Offizier der Ehrenlegion, Geliebter und lebenslanger Vertrauter des Marcel Proust. Als Sänger trug er höchstpersönlich auch am Klavier in den mondänsten Pariser Salons wie demjenigen von Madame de Lemaire seine Lieder vor. Der in Caracas geborene Sohn eines nach Venezuela emigrierten Hamburger Kaufmanns und einer Venezolanerin spanisch-baskischer Abstammung kam als Vierjähriger nur deshalb nach Paris, weil sein Vater Carlos als Berater des Generals und Präsidenten Antonio Guzmán Blanco politisch bedroht war. Der musikalisch frühreife Reynaldo begann früh zu komponieren, ab dem 11. Lebensjahr studierte er am Conservatoire de Paris u.a. als Schüler von Jules Massenet.

Er gilt als typischer Vertreter der „Belle Époche“, also hochromantischer Musik des späten 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das freizügige und genusssüchtige Pariser Bürgertum frönte damals materiell abgesichert sorglos der Liebe nach bester ‚savoir vivre‘ Manier. Reynaldo Hahn ist einer der bekanntesten Komponisten der Zeit und Liebhabern französischer Mélodies durchaus zumindest mit einigen wenigen Titeln ein Begriff. Ich erinnere mich an eine besonders schöne CD der meist für Männerstimme geschriebenen Hahn-Lieder, exzellent vorgetragen von Susan Graham aus dem Jahr 1997 (Klavier Roger Vignoles). Auch Felicity Lott, Martyn Hill oder Ian Bostridge nahmen sich seines Liedschaffens an. Von seinen vielen Bühnenwerken (Opern und Operetten) dürfte gerade einmal „Ciboulette“ im Gedächtnis haften.

Fakt ist, dass ca. nur ein Viertel der Lieder Hahns auf Tonträge gebannt sind, d.h. dass von den 107 insgesamt aufgenommen Lieder der Großteil als Weltpremiere gelten darf. Der griechische Bariton Tassis Christoyannis und sein Begleiter am Flügel, Jeff Cohen, füllen nun diese eminente Lücke im Katalog. Dabei darf vor allem der flexible, tenoral gefärbte lyrische Bariton von Tassis Christoyannis als ideal für dieses Repertoire gelten. In Stil, Gestaltungsvermögen, Wortdeutlichkeit, Innigkeit des Ausdrucks und Elegance der Phrasierung einem Gerard Souzay ebenbürtig, findet Christoyannis für jedes Lied den dem Text entsprechenden eigenen Erzählduktus, seine eigene künstlerische Wahrheit, seinen eigenen Klang. Dabei verblüfft die Leichtigkeit der Tongebung, die Duftigkeit der Piani, gross modo die sängerische Intuition, die Tugenden von Chanson und Kunstlied zu einer höheren Einheit zu verschmelzen. 

Hahn verband spielerische melodische Eingebung mit harmonischer Experimentierfreude. In seinen Vertonungen von dichterisch Wertvollem eines Victor Hugo, Théophile Gautier, Alphonse Daudet, Paul Verlaine, Theodore de Banville, Leconte de Lisle, Jean Moréas oder Catulle Mendès gelingt Reynaldo Hahn auf individuelle Weise, den ganzen klangschöpferischen Reichtum einer Ära mit ihren Moden und Exotismen abzubilden. Hahn ist ein Meister der Zwischentöne, der feinen Abschattierungen von Empfindung, Melancholie und Schmerz. 

Als Höhepunkte seines Schaffens können neben den bekannten Liedern “Si mes vers avaient des ailes”, “Rêverie”, “Paysage”, “Trois Jours de vendange” und “Les Cygnes” der Zyklus “Chansons grises” nach Lyrik von Paul Verlaine genannt werden. In der Sammlung der “Rondels” treffen wir auf Stücke, die auf dem mittelalterlichen Rondell fußen, einer strengen literarischen Form, die dreimal zwei Verse eines Gedichts wiederholt. Kein jugendlicher Überschwang, keine symbolistischen Nebel, dafür klare Harmonien und geradlinige Melodien. Der Zyklus “Études latines”  leuchtet in graziler Schlichtheit, während der Band “Venezia” dem italienischen Lied samt ihren Volkssängern, Mandolinen- und Gitarrenklängen huldigt. Die Sammlung von elf Liedern “Les Feuilles blessés”, vordergründig eine Reise in das herbstliche Paris, ist zerklüftete Seelenlandschaft und spirituelle Weggabelung zugleich. Welch reife Entwicklung doch auch dieser Komponist genommen hat.

Die vorliegende Box eröffnet ein neues faszinierendes Hauptkapitel im Großen Buch des französischen Liedes. Zum Gelingen trägt neben den magischen Interpretationen des Tassis Christoyannis aber auch Pianist Jeff Cohen ganz entscheidend bei, der mit dem Sänger eine Symbiose an höchster Kunstfertigkeit und differenziert subtilem Ausdruck zu bilden scheint. Sicher eine der bedeutendsten Veröffentlichung dieses Herbstes. Eine unbedingte Empfehlung! 

Die Melomanen unter uns dürfen sich aber schon jetzt auf die Ausgrabung zweier unbekannter Opern von Reynaldo Hahn freuen: “L’Ile du Reve” mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Hervé Niquet und “La Carmelite” mit dem Orchestre National du Capitole de Toulouse unter Leo Hussain. Die konzertante Aufführung vom 26.1.2020 aus dem Prinzregententheater wird ebenso auf CD erscheinen wie der Mitschnitt vom 14.3.2020 aus der Halle des Grains, Toulouse. Selbstverständlich wiederum beim Label Palazzetto Bru Zane….

Buchtipp: „Marcel Proust und Reynaldo Hahn – Eine Freundschaft in Briefen“ von  Christoph Vratz; Herausgegeben und übersetzt von Bernd-Jürgen FischerVerlag: Reclam

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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