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CD REINHARD GOEBEL, MUSICA ANTIQUA KÖLN – Complete Recordings on Archiv Produktion; Archiv

04.09.2022 | cd

CD REINHARD GOEBEL, MUSICA ANTIQUA KÖLN – Complete Recordings on Archiv Produktion; Archiv

Fundgrube barocker Raritäten – auf höchstem Niveau musiziert

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Historisch informiertes Musizieren, Originalklang, Orchester mit Instrumenten der Zeit, gesteigerte Klangrede dank geschärfter Artikulation – die große, alle Hörgewohnheiten auf den Kopf stellende Werktreue-Bewegung der Interpretation von Alter Musik begann sich ab den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu formieren. Sie setzte sich annähernd gleichzeitig in verschiedenen Ländern dank solch charismatischer Persönlichkeiten wie Nikolaus Harnoncourt, Jordi Savall, Gustav Maria Leonhard oder Frans Brüggen durch. Bogenstrichtechniken wie Spiccato, Ricochet, Detaché oder Sautillé, vibratoarme Streicher, Transparenz, expressive Phrasierung, all das hat über Jahrzehnte hinweg nicht nur auf alle Spezialensembles abgefärbt, sondern bestimmt auch die Art des Musizierens von Orchestern mit modernem Instrumentarium, die Barockes oder auch Werke der Wiener Klassik bis tief hinein in die Frühromantik auf dem Spielplan haben.

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In Deutschland war es der Geiger Reinhard Goebel, der 1973 in Köln das Ensemble Musica Antiqua Köln gründete und mit diesem Orchester 33 Jahre lang einer der maßgeblichen Player vorwiegend deutscher, französischer und italienischer Barockmusik war. Und das nicht nur im Konzertsaal. Die ausgedehnte Aufnahmetätigkeit, das Bewahren des geglückten Moments waren immer ein Teil der Identität des Orchesters.

Die gesammelten Ergebnisse können nun dank der hervorragenden ABox aller für das Label Archiv Produktion eingespielten LPs und CDs gehört werden. Ich war schon „zu früher Stunde“ ein großer Freund der Aufnahmen der Musica Antiqua Köln. Mir haben besonders die stets hervorragende Tonqualität, aber auch die Repertoire Wahl abseits ausgetretener Pfade, der so lebendige Sound, die vollmundigen Streicher und allgemein der spannungsgeladene, flotte Musizierstil imponiert. Nichts klang bei den Kölnern je ausgedünnt anämisch oder scharf.

Reinhard Goebel ist aber nicht nur ein hervorragender Geiger und Dirigent, sondern jemand, der sich wirklich an den Originalquellen orientierte, unabhängig davon, ob schon andere Kollegen vor ihm die Archive durchstöbert haben und ihre Lesart dem Publikum darboten. Autographe, zeitgenössische Aufsätze über die Art des Musizierens, das bildete den Kern seiner Forschungstätigkeit, die immer darin mündete, dass Goebel die schwer entzifferbaren Noten der Handschriften in lesbare Partituren wandelte.

Reinhard Goebel ist eine romantische Künstlerpersönlichkeit. Ähnlich wie Nikolaus Harnoncourt bringt Goebel in die Musik mitreißende Emotion und höchstpersönliche Akzente, ja bisweilen exzentrisch wirkende Tempi oder schroff kantige Akzente mit ins Spiel. Er weiß, dass bei aller historischen Suche nach Authentizität es immer der Mensch im hier und heute ist, der die Musik empfindet und vermittelt. Mit damaligen Augen lesen und mit heutigen Ohren hören. Nicht musealer Selbstzweck leitet Goebel, sondern stilistische Individualität im Wissen um das historisch Überlieferte. Goebel meidet übertriebene Rubati, er vermag neben fetzigen Allegro-Sätzen auch lang gespannte Bögen zu formen und ein geschmeidiges Legato fließen zu lassen.

Das Repertoire, das sich auf der Box findet, reicht geographisch von Neapel bis Hamburg, von Paris bis zum Baltikum. Besonders hervorzuheben sind die Einspielungen mit Werken von Johann Sebastian Bach. Neben Reißern wie den Brandenburgischen Konzerten oder den Orchestersuiten finden sich kammermusikalische Juwelen wie die Einspielung der Sonanten für Violine und Cembalo (mit Robert Hill als Partner), aber auch die erste historisierende Ensembleversion der Kunst der Fuge. Goebel engagierte sich besonders für das Werk von Johann David Heinichen, dessen 12 Dresdner Concerti grossi, Lamentationes und Passionsmusiken für diskographische Sensationen sorgten.

Neben spektakulären Aufnahmeprojekten wie der Filmmusik zu „Le roi danse“ des Gérard Corbiau leistete Goebel Maßgebliches in Sachen Georg Philipp Telemann. Auf 11 CDs sind die Tafelmusiken, Konzerte, Divertimenti, Sinfonias, Ouvertüren, Flöten-Quartette und Sonaten zu hören.

Unter den Italienern, die auf der Box zu Ton kommen, finden sich neben Claudio Monteverdi und Antonio Vivaldi Kompositionen von Francesco Maria Veracini, Francesco Mancini, Domenico Natale Sarri, Francesca Barbella und Robert Valentine.

Neben den vielen rein instrumentalen Erkundungen hat sich Goebel auch für die Vokalmusik eingesetzt und sich hier mit einigen wunderschönen Einspielungen ins Referenzbuch der Plattengeschichte einschreiben können: Die Messe des Morts von Jean Gilles, weltliche Bach Kantaten mit Röschmann, Köhler, Genz, Hochzeitskantaten mit Christine Schäfer, Lamenti mit Magdalena Kožená oder Marienkantaten und -arien von Georg Friedrich Händel mit Anne Sofie von Otter erfreuen jedes noch so anspruchsvolle Melomanenherz.

Die Box reflektiert ein tolles Stück deutsche Musikgeschichte, die Aufnahmen haben dennoch nichts von ihrer interpretatorischen Frische, Natürlichkeit und Passion eingebüßt.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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