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CD Rafael Kubelik dirigiert Werke von Haydn, Schönberg und Tchaikovsky

Erstveröffentlichung des live-Mitschnitts vom Abschlusskonzert der Internationalen Musikfestwochen Luzern 8.9.1968; Audite Historic Performances

18.09.2022 | cd

CD Rafael Kubelik dirigiert Werke von Haydn, Schönberg und Tchaikovsky – Erstveröffentlichung des live-Mitschnitts vom Abschlusskonzert der Internationalen Musikfestwochen Luzern 8.9.1968; Audite Historic Performances

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Rafael Kubelík, Geiger, Pianist, Dirigent und Komponist aus Böhmen, war Luzern auch privat verbunden. In der Stadt, die er 1948 zur Wahlheimat erkoren hatte und in der er 1996 sterben sollte, dirigierte er 1968 ein emotional wie musikalisch wohl einzigartiges Konzert. Das New Philharmonia Orchestra war zu Gast geladen, als in der Nacht zum 21. August 1968 hunderttausende Soldaten des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschieren. Es handelte sich damals um die größte militärische Invasion in Europa seit 1945.

In Luzern dirigierten unterdessen Otto Klemperer und Claudio Abbado den Londoner Luxusklangkörper. Das dritte und letzte Konzert des Gastspiels bestritt Rafael Kubelik mit folgendem Programm: Joseph Haydns Symphonie Nr. 99 in Es-Dur, das Klavierkonzert op. 42 von Arnold Schönberg (SolistJohn Odgon) sowie die Vierte Symphonie von Peter I. Tchaikovsky. Wie nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, thematisierten manche Medien damals die Frage der Angemessenheit der Aufführung russischer Musik. 

Kubelik, der sofort eine „Stiftung für die tschechoslowakischen Emigranten nach dem 21. August 1968“ initiierte, blieb glücklicherweise beim ursprünglich vorgesehenen Programm. Und so können wir heute, nach fast 55 Jahren, die Aufnahmen, basierend auf den Originalbändern aus den Archiven des SRF Schweizer Radio und Fernsehen, in sehr guter Tonqualität nachhören. 

Vor allem die Vierte Symphonie von Tchaikovsky ist wohl kaum je intensiver, in den Rubati und melodienseligen chiaroscuro-Stimmungen aufregender und persönlicher erklungen als damals in Luzern. Die Symphonie, die der russische Komponist 1877 in einer existenziellen Krise nach der Hochzeit mit der ungeliebten Antonina Miljukowa, bekenntnishaft voller Leidenschaft in Szene setzte, ist trotz aller scheinbarer Leichtigkeit und Sonntagslaune im letzten Satz  nichts weniger als ein todesnaher Aufschrei gegen gesellschaftliche Zwänge sowie die Scham vor der niederschmetternden Feigheit, sie negieren zu können. Tchaikovsky formulierte das bezogen auf den zweiten Satz so: Er „drückt das schwermütige Gefühl aus, das mich am Abend überkommt, wenn ich müde von der Arbeit alleine da sitze … vielerlei jagt durch den Sinn, glückliche Augenblicke, aber auch solche der Niedergeschlagenheit. Es ist traurig und auch wieder süß, sich in der Vergangenheit zu verlieren!“

Kubelik scheint sich diese Musik in ihrer innersten Dimension angeeignet zu haben. In der Perspektive des Beobachters einer Welt, in der betrunkene Bauern und ein Militäraufzug paradieren, legt der Dirigent einen beissenden Furor ins Finale, der eher von schnaubender Wut erzählt als Feiertagsstimmung ausdrückt. Die Ambivalenz der Gefühle weicht einer eindeutigen Stellungnahme. Wahrhafter kann Musik und deren Interpretation nicht sein. Ein Ereignis.

Dass Kubelik seinen Haydn in aller von Originalklangerwägungen unerschütterten orchestralen Pracht und englischen Ironie drauf hat, war zu erwarten. Das Schönberg-Klavierkonzert bildet einen raren Augenblick in der dünn gesäten Diskographie des fabelhaften Pianisten John Odgon.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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