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CD «PORTRAITS DE LA FOLIE» – STÉPHANIE D’OUSTRAC, Ensemble Amarillis ; harmonia mundi

10.07.2020 | cd

CD «PORTRAITS DE LA FOLIE» – STÉPHANIE D’OUSTRAC, Ensemble Amarillis ; harmonia mundi

Wahnsinnsarien in der Oper. Wer denkt da nicht an „Il dolce suono“ aus Donizettis „Lucia di Lammermoor“ samt koloraturgespickten Echoeffekten mit der Flöte oder Glasharmonika. An Maria Callas, Leyla Gencer, Joan Sutherland und Edita Gruberova. Natürlich wurde unsere in höchsten Sopran-Stratosphären entrückte Heldin zuvor arg enttäuscht, bevor sie mit dem Messer zustach, wie das halt im Belcanto des 19. Jahrhunderts den gruselig romantischen Vorstellungen entsprach.

Freilich gehorcht in der Oper die fast immer weibliche Exaltation der Seele mehr ästhetischen Prinzipien und Männerphantasien als pathologischen Gesetzen. Oder wie Sieghardt Döring den Zustand in seinem Standardwerk „Die Wahnsinnsszene. Die couleur locale“ in der Oper des 19. Jahrhunderts“ (1976) als dem „einer sentimentalen Liebenden vor romantisch-pittoresken Hintergrund, in den Wahnsinn getrieben durch Zerstörung ihres Liebesglücks seitens böser Feinde oder eines launischen Schicksals“ beschreibt. Für den Opernfreund bieten sich in jedem Fall Momente höchsten Entzückens. Welcher Melomane liebte nicht die Arie der Orphélie aus „Hamlet“ von Ambroise Thomas, die tirilierenden Halluzinationen der Elvira aus „I Puritani“ aus der für mich schönsten Bellini-Oper oder die große Arie der „Anna Bolena“ in der gleichnamigen Oper von Gaetano Donizetti?

Das vorliegende, den vorgetäuschten, vorübergehenden oder endgültigen Verstandesverlust in einigen musikalischen Facetten porträtierende Album führt uns jedoch ins 17. und 18. Jahrhundert zu den überwiegend englischen und französischen Anfängen des beliebten Genres.

Die frz. Mezzo-Sopranistin Stéphanie D’Oustrac, die sich 2018 mit einer gelungenen CD den „Sirenen“ in der Musik verschrieben hatte, ist nun bei „La Folie“ angelangt. Freilich hat dieser Begriff vielschichtigere Gesichter, als es das deutsche Wort Wahnsinn vermuten ließe. Von höfischen Balletten und ihren extravaganten Maskeraden bahnt sich dieses burleske wahnbesessene Universum seine Bahn zur tragédie lyrique eines Lully mit den furiosen Wutattacken der Furien. Freilich tritt „la Folie“nach der pathetischen Tragödie im Gegenzug auch als manierliche Allegorie im lustigen Geleit von Carnaval, Bacchus, Momus und Amour auf. In der Comedia dell’arte steigt eine kapriziöse, vergnügungssüchtige „Folie“ sogar zur Göttin auf, erhaben über alle Fährnisse des niedrigen menschlichen Schicksals.  Die Venezianer mit ihrem bunten Karnevalsgetöse liebten ohnedies jede Umkehr der gesellschaftlichen Codes. Ebenso war die Wahnsinnsszene in der Hamburger Oper ein fixer Typus.

Eine Personifikation verschiedenster Gemütszustände bis zu halluzinierenden Fantasien kann auch als Suche nach Freiheit, Formulierung innerster Wünsche oder Sehnsucht nach Unabhängigkeit gelesen werden. Die kultivierte, hellsichtige und charakterstarke nach Emanzipation strebende Frau gab es auch schon im 17. und 18. Jahrhundert, schließt Camille Tanguy im Booklet.

Das gewichtigte Zentrum der CD bildet Georg Friedrich Händels 25 Minuten lange italienische Kantate „Ah! Crudel nel pianto mio“ mit einer ausgedehnten Sinfonia und drei Arien, wo die in schöne Töne gekleideten quälenden Liebeswirren Anlass für berührende Sangesakrobatik geben. Rundherum hören wir bis auf die zwei wunderbaren Szenen (für mich die absoluten Höhepunkte des Albums) von Henry Purcell „From Silent Shades“ und „From Rosy bow’rs“ viele kurze ausdrucksstarke Stücke, die den Extremzustand der Protagonistin in exotische Klänge travestieren. So die Arie der Folie ‘Accourez hâtez-vous’ von André Campra oder ‘Ne cesse point de m’enflammer’ aus Séméle von André Cardinal Destouches. Frühbarocke vokale Juwelen, deren rasante Verzierungen, vertrackten Läufe, aber auch herzzerreißend klagende Legatobögen  von Stéphanie d’Oustrac mit volltönendem dunklem Sopran wohltönend als auch präzise interpretiert werden und auch an Ausdrucksintensität keinen Wunsch offen lassen.

Programmatisch zumindest diskussionswürdig ist, warum zwischen den Gesangsnummern nicht wenige reine barocke Instrumentalstücke (über ein Drittel der Spielzeit!) aufgenommen wurden, die zwar atmosphärisch irgendwie passen, aber nichts porträtieren und letztendlich anderen interessante Arien-Ausgrabungen den Platz nehmen. So hören wir vom Ensemble Amarillis unter der musikalischen Leitung von Héloise Gaillard sauber dargeboten eine Sinfonia von Reinhard Kaiser, ein Concerto a 7 von Johann David Heinichen, Ground von John Eccles, eine Caprice in e-Moll von Marin Marais sowie ein Rondeau aus dem berühmten Ballett Les Éléments von Jean-Féry Rebel.

Sei’s drum. Am Ende gibt es ja noch die beiden Wahnsinnsarien von André Cardinal Destouches ‚Abandonnons le soin du monde‘ sowie ‚Souffrez que l’Amour vous lie“ zu bewundern.

Fazit: Das Album ist wegen des raren Repertoires aber auch wegen der faszinierenden Gesangeskünste der Primadonna d’Oustrac zu empfehlen. Der Titel der CD gibt in Anbetracht der vielen Instrumentalnummern partiell etwas anders vor, als sich Melomanen erwarten dürfen.

Inhalt der CD

Reinhard Keiser: Sinfonia aus ‚Der lächerliche Printz Jodelet‘

Georg Friedrich Händel: Kantate HWV 78 *Ah, crudel!‘

Johann David Heinichen: Concerto G-Dur a 7 S. 214

André Campra: Air de la Folie aus ‘Les Fetes Venetiennes’

André Cardinal Destouches: 3 Arien aus ‘Semele’; Gavotte en Rondeau & Air de la Folie aus ‘Le Carnaval et la Folie’

Marin Marais: ‘Descendez, cher amant’ aus ‘Semele’

John Eccles: Ground f-moll

Henry Purcell: From silent Shades; From Rosie bow’rs aus ‘Don Quixote’

Marin Marais: Caprice e-moll aus Suite Nr. 5 (Pieces en trio pour les Flutes, Violons & Dessus de Viole)

Jean-Féry Rebel: Air pour l’amour aus Les Elements

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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