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CD plus DVD: Grigory Sokolov spielt Beethoven, Brahms und Mozart; Deutsche Grammophon

Entschleuniger, Perfektionist und Kontrollfreak als lebende Legende – live mit dem Tourprogramm 2017 (DVD) und 2019 (CD) 

25.06.2020 | cd, dvd

CD plus DVD: Grigory Sokolov spielt Beethoven, Brahms und Mozart; Deutsche Grammophon

Entschleuniger, Perfektionist und Kontrollfreak als lebende Legende – live mit dem Tourprogramm 2017 (DVD) und 2019 (CD) 

Im April feierte der russische Superstar Grigory Sokolov seinen 70. Geburtstag. Auch er hätte sich das Konzertjahr 2020 sicher anders vorgestellt. Bis Ende August sind alle Termine abgesagt. Im September waren keine vorgesehen. Sokolov will erst wieder im Oktober 2020 mit Konzerten in der Laeiszhalle Hamburg, hierauf im NDR Landesfunkhaus Hannover und in der Residenz München starten. Diesmal stehen überall Mozarts Präludium und Fuge C-Dur KV 394, die Klaviersonate Nr. 11 A-Dur KV 331 & Rondo a-Moll KV 511 und Schumanns „Bunte Blätter“ Op. 99 auf dem Programm.

Ein öffentlichkeitsscheuer Klavier-Maschinist, ein unerbittlich Probender und tüftelnd-Feilender, eine Sondererscheinung im Klassikbetrieb? Auf jeden Fall ist Sokolov einer, der Interviews ebenso wenig mag wie Orchesterkonzerte oder (verständlicherweise) Langstreckenflüge samt Jetlag. Lieber reist er mit dem Auto an. Sokolov wirkt in seinen exzentrischen Ansprüchen wie eine seltene Mischung aus Sviatoslav Richter, Carlos Kleiber und Sergiu Celibidache. Nur in einem Punkt pflegt der Überorganisierte einen gewissen Toleranzspielraum: Er tourt nicht mit einem eigenen Flügel, was dem Klavierstimmer jedoch alles abverlangt.

Dabei hat sich trotz allem prozessual eine gewisse Arbeitsroutine eingeschlichen: Sokolov sucht sich ein Solo-Konzertprogramm mit Werken der großen Komponisten aus Klassik und Romantik im Oktober aus. Da aber auch nur die erste Hälfte, die nächste wird im Februar des kommenden Jahres nachgeliefert. Das und nur das Repertoire alleine spielt der große Tastenmagier ein Jahr lang fleißig etwa 70 bis 80 Mal auf Tourneen.

Da tritt Sokolov auch in Städten wie Zaragoza auf, wo er weiß, den Saal volle 24 Stunden vor dem Konzert nutzen zu können, um sich an das Instrument und die akustischen Gegebenheiten gewöhnen zu können. Oder eben in der Historischen Stadthalle Wuppertal mit dem akustisch exzellenten Großen Saal, aus der die „Bagatellen“ Op. 119 stammen. In der Chiesa di San Bernardo in Rabbi (Trentino 1300 Einwohner, wo einst Arturo Benedetti Michelangeli wohnte und vielleicht gibt‘s da ein umwerfend gutes Restaurant?) spielt Sokolov jedes Jahr ein Benefizkonzert vor 300 Leuten.

Paradox wie bei Celibidache lässt der Studiohasser jedoch Konzerte in solch klanglich günstigen Konzertstätten wie den oben erwähnten von den besten Tontechnikern mitschneiden und sich manchmal bei seinen Auftritten filmen. Dann sucht er die für ihn gelungensten Mitschnitte aus (bei Filmen kontrolliert er nur die Tonspur) und lässt sie – möglichst ohne Nachbearbeitung – von der Deutschen Grammophon herausbringen. Was eine gute Aufnahmequalität, bestmögliche PR, mediale Aufmerksamkeit und natürlich auch Business bringt. Für alles gilt: Dreinreden gibt‘s nicht. Mit Karajan hat Sokolov gemeinsam, dass der Name als alleiniges Qualitätssiegel auf den CD-Covern genügen muss. Was da gespielt wird, soll zumindest für den Konsumenten zweitrangig bleiben. Aber auch der mit Argusaugen kontrollierte Blick auf die Nachwelt und sein künstlerisches Vermächtnis dürften Sokolov mit dem Salzburger Maestro verbinden.

Die neue Box besteht aus zwei CDs (aus drei verschiedenen Recitals montiert) und einer DVD (Konzert aus Turin 2017; Bildregie Nadia Zhdanova): Beethoven, Brahms und Mozart. Die in rascher Kadenz absolvierten auffällig vielen Zugaben (durchaus gehaltvolles wie Schuberts „Impromptu“ in As-Dur, Brahms „Intermezzo“ in b-Moll, Schuberts „Allegretto“ in c-Moll, Debussys „Des pas sur la neige“ bzw. Petitessen von Rameau und Rachmaninoff) bezeugen mehr das auf Sicherheit bedachte Gewohnheitstier denn einen neugierigen Erkunder kaum erschlossener Klangwelten.

Das Irre an den Aufnahmen ist, der Hörer ist trotz der streng kalkulierten Spielweise – Sokolov ist in jeder Hinsicht der Gegenpol zu spontan – vom ersten Moment an fasziniert, ja beinahe wie das schüchterne Kaninchen vor der Schlange starr vor Bewunderung. Sind ein solcher Grad an Perfektion, eine solche Anschlagsvarianz überhaupt möglich? Sollte eine Beschreibung mit den Worten „genial-punktum“ nicht schon alles Sagbare aussprechen? Vom Pianisten ist ja auch nichts Authentisches über seine Sicht der Werke überliefert.

Der Großteil der Konzerte waren dem diesjährigen Jubilar Ludwig van Beethoven gewidmet. Seine Sonate in C-Dur Op. 2/3, auf der DVD die Sonaten Nr. 27 in e-Moll Op. 90 und Nr. 32 in c-Moll, Op. 111, die Bagatellen Op. 119 wiederum als reine Audiowiedergaben. Die Klavierstücke Op. 118 und Op.119 von Johannes Brahms sowie die Mozart Sonate in C-Dur KV 545 und dessen Fantasie & Sonate in c-Moll KV 475 & 457 können im Video genossen werden. Über allem weht eine metronomische Präzision sondergleichen, die mit keuscher Vorsicht gewählten Rubati bleiben die kleinen Ausnähmen von der strengen Temporegel. Ein kühler Hauch, etwas Geheimnisvolles liegt über dem Spiel von Sokolov. Emotionen fließen nur wohldosiert in das Spiel. Das gilt besonders für Mozart, den Sokolov insgesamt mit unglaublicher Zartheit und Behutsamkeit spielt. Nichts an Sokolovs Mozart-Sicht ist vordergründig spektakulär. Den eingefleischten Anhängern rasanter Tempi wird das womöglich ziemlich langweilig vorkommen. Aber Sokolov ist auch ein Meister des großen Atems, ein architekturaler Visionär, kein ungeduldiger Haudrauf.  

Sokolovs Beethoven-Aufnahmen gehören allzu großer Ebenmäßigkeit wegen nicht zu meinen persönlichen Lieblingseinspielungen. Dafür ist der Brahms ganz große Klasse, da entwirren sich die die komplexen Harmonien, der kristalline Ansatz passt hier besser als zum so aufbrausenden Bonner Jubilar. 

Fazit: Werbung und Bejubelung braucht dieses eminente Album sowieso nicht, vielleicht helfen die paar Anmerkungen und der Blick in die Werkstatt des Pianisten dem Verständnis.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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