Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: Schwanensee. Staatliches Akademisches Symphonieorchester Russland „Evgeny Svetlanov“. Vladimir Jurowski, musikalische Leitung. Pentatone, PTC: 5186640
Schwanensee in seiner ursprünglichen Form: Eine neue Aufnahme unter Vladimir Jurowski
„Schwanensee“ ist das erste der drei großen Ballette, die Pjotr Iljitsch Tschaikowsky schrieb, und wohl das berühmteste. Es erzählt die tragische Geschichte der verzauberten Prinzessin Odette und des Prinzen Siegfried. Das Stück ist vor allem in der Form bekannt, die es 1895 erhielt, als es in der Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow zu einem Klassiker wurde. Diese „kaiserliche“ Version wich von Tschaikowskys Uraufführungspartitur ab und wies mehrere Schnitte, Kürzungen und Verschiebungen auf. Doch die vorliegende hochauflösende Aufnahme präsentiert das Werk, wie es während der Uraufführung 1877 zu hören war, und hebt die außergewöhnlichen symphonischen Qualitäten von Tschaikowskys ursprünglicher Konzeption hervor.
Die ursprüngliche Partitur von 1877 war Tschaikowskys erstes Experiment mit dem Ballettgenre, und obwohl sie bei der Uraufführung in Moskau gemischte Kritiken erhielt, zeigte sie bereits das Genie des Komponisten in der Verbindung von Tanz und Musik. Diese Version wurde im Laufe der Jahre verändert und verfeinert, insbesondere durch die ikonische Neufassung von Petipa und Iwanow, die das Werk in die Form brachte, die wir heute kennen und lieben. Die Fassung von 1895 strafft die Handlung, fügt neue Tänze hinzu und verändert die Reihenfolge einiger musikalischer Nummern, um eine dramatischere und theatralischere Wirkung zu erzielen.
Die vorliegende Aufnahme jedoch kehrt zu den Wurzeln zurück und bietet eine seltene Gelegenheit, die ursprüngliche Struktur und Intention Tschaikowskys zu erleben. Diese Version zeigt das Werk in seiner symphonischen Pracht und erlaubt es, die Komplexität der Komposition in vollem Umfang zu genießen.
Das Staatliche Akademische Symphonieorchester Russlands „Evgeny Svetlanov“ unter der Leitung seines künstlerischen Leiters Vladimir Jurowski hat sich der Herausforderung gestellt, Tschaikowskys „Schwanensee“ in seiner originalen Form zu präsentieren. Jurowski hat bereits zahlreiche Aufnahmen für PENTATONE gemacht und dafür viel Kritikerlob erhalten.
Doch wie schlägt sich diese besondere Interpretation?
Die Aufnahme klingt sehr weiträumig und atmend. Selten ist die Musik derart „sprechend“ und interaktiv zu bestaunen, wie hier. Jurowski realisiert einen durchhörbaren Klang und behält stets die Struktur im Auge. Jeglicher lärmender Effekt wird vermieden. Der berühmte Walzer im ersten Akt wird hier nicht zur Shownummer, sondern ist eine behutsame Musik der Annäherung. Insgesamt bevorzugt Jurowski ein trockenes Klangbild mit deutlichen Akzenten.
Interessant ist das Klangbild des Orchesters. Vorbei sind die Zeiten der früheren Melodyia-Aufnahmen mit vibratolastigen Blechbläsern bei zuweilen abenteuerlicher Intonation. Das Orchester spielt glänzend und deutlich europäisch im Klang. Das kraftvolle, erdige Spiel passt nicht zu Jurowski, der hier doch das Symphonische der Musik betont. Ein wenig bleibt dabei das Märchenhafte auf der Strecke. Leider ist Jurowski nicht der passionierte Interpret, der die Musik auch einmal in das entäußerte Gefühl entlässt. Ein strenger, allzu kontrollierter Tschaikowsky ist da zu erleben. Das Theatralische der Musik wird bedauerlicherweise zu sehr auf Sparflamme gehalten. Sicherlich ein anderer Ansatz, doch haben wir es nicht mit einer Sinfonie zu tun. So bleibt Jurowskis Ansatz allzu technisch und unterkühlt, was umso bedauerlicher ist, da sein Orchester eine vorbildliche Leistung erbringt.
Hier lohnt es sich, auf den Namensgeber des Orchesters, Evgeniy Svetlanov, hinzuweisen, der von 1965 bis 2000 dessen langjähriger Leiter war. Svetlanov war D E R Interpret für russische Musik, vor allem von Tschaikowsky. Er hat auch dessen drei Ballette mit dem Staatlichen Akademischen Symphonieorchester Russlands eingespielt, was einen spannenden Gegenentwurf zu Jurowskis Interpretation darstellt. Svetlanovs Aufnahmen sind geprägt von praller Theatermusik und entsprechendem Pathos, während Jurowski einen intellektuelleren und kontrollierteren Ansatz wählt. Es ist von unschätzbarem Wert, dass es solch unterschiedliche Interpretationen gibt, die verschiedene Facetten von Tschaikowskys Meisterwerken beleuchten.
Das Orchester spielt fabelhaft: seidige Streicher, gefühlvolle Holzbläser, sehr disziplinierte Blechbläser und straff geführtes Schlagzeug. Es ist ein Genuss, den präzisen und feinsinnigen Darbietungen der Musiker zu lauschen. Pentatone steuert wie gewohnt seine vorzügliche Aufnahmetechnik bei und schafft eine klare und ausgewogene Klanglandschaft, die jedes Detail hörbar macht.
Diese Aufnahme von Tschaikowskys „Schwanensee“ in der originalen Fassung von 1877 ist zweifellos ein faszinierendes Dokument und eine Bereicherung für jede Sammlung. Sie bietet eine seltene Gelegenheit, das Ballett so zu hören, wie es der Komponist ursprünglich konzipiert hat, mit all seiner symphonischen Tiefe und strukturellen Klarheit.
Vladimir Jurowski und das Staatliche Akademische Symphonieorchester Russlands „Evgeny Svetlanov“ liefern eine technisch brillante und sorgfältig durchdachte Interpretation, die die Musik in einem neuen Licht erscheinen lässt. Doch leider bleibt dabei das Emotionale und Märchenhafte der Partitur etwas auf der Strecke. Jurowskis Ansatz ist zu kontrolliert und intellektuell, um die volle theatralische Wirkung zu entfalten, die „Schwanensee“ zu einem unsterblichen Klassiker macht.
Dennoch machen die brillante Leistung des Orchesters und die hervorragende Aufnahmetechnik von Pentatone diese Veröffentlichung zu einem wertvollen Beitrag zur Diskografie von „Schwanensee“. Wer sich für die ursprüngliche Vision Tschaikowskys interessiert und eine neue, detaillierte Perspektive auf dieses Meisterwerk gewinnen möchte, wird hier fündig.
Dirk Schauß, im August 2024
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky
Schwanensee
Staatliches Akademisches Symphonieorchester Russland „Evgeny Svetlanov“
Vladimir Jurowski, musikalische Leitung
Pentatone, PTC: 5186640