CD PETER HEISE: DROT OG MARSK (König und Marschall) – exemplarische Einspielung dieser prachtvollen dänischen Oper; Live-Aufnahme aus dem Opernhaus in Kopenhagen vom Mai 2019, dacapo
Ein historischer Gruselschocker aus dem Mittelalter stand Pate für das Libretto. Am 22.11.1286 wurde der dänische König Erik in einer Scheune mit 56 Messerstichen ermordet. War es Rache für eine Vergewaltigung oder erfolgte die Tat aus politischen Gründen? Auf jeden Fall wurde Marschall Stig Andersen und acht weitere hohe Militärs vom Gericht wegen angeblicher Beteiligung am monarchischen Gemetzel zu Outlaws erklärt und mussten nach Norwegen fliehen.
Im 19. Jahrhundert stürzten sich Dichter und Maler auf das lohnende Sujet. 1850 hatte der damals 20-jährige Musikstudent Peter Heise eine Aufführung von Carsten Hauchs Tragödie „“Marsk Stig“ am königlich dänischen Theater gesehen. 25 Jahre später machte er sich daran, eine Oper daraus zu basteln. Da war er der erfolgreichste Komponist von Romanzen in Dänemark. Eine Aufnahme sämtlicher Lieder mit Bo Skovhus, Elsa Dreisig, Adam Riis, Jakob Bloch Jespersen, Jens Sondergaard, Mari Eriksmoen, Christian Westergaard, Bo Kristian Jensen, David Danholt, Lars Möller, Sofie Elkjaer Jensen ist auf 11 CDs ebenfalls bei dacapo („The Song Edition“) erschienen.
Die Befassung mit der blutrünstigen Geschichte reicht zurück ins Jahr 1856. Da hatte Heise schon eine Konzertouvertüre mit dem Titel „Marshal Stig“ geschrieben. Der Librettist Christian Richardt stellte 1877 einen operntauglichen Text fertig. Darin geht es klarerweise primär um Eifersucht, weil der 37 Jahre junge König sich – und das auf Gegenseitigkeit beruhend – in des Marschalls Frau Lady Ingeborg verliebt hat.
Bemerkenswert ist, dass das Textbuch schon sechs Monate vor der Opernpremiere gedruckt erschienen ist und bei der Uraufführung bereits in zweiter Auflage verkauft wurde. Die Verse gefielen, die durchkomponierte Oper ohne große Arien wurde vom Publikum gut aufgenommen. Nur die Kritiker meckerten herum, dass es zu wenig große Ensembles gäbe und die Solisten nicht mit hinreichend virtuoser Gurgelakrobatik gefordert wären. …. . Dennoch kann das Werk bis heute auf eine ununterbrochene Rezeption und Aufführungsgeschichte zurückblicken.
Die für diese Publikation mitgeschnittene Aufführung fand im Mai 2019 am architektonisch spektakulären Königlichen Opernhaus auf der Insel Holmen in Kopenhagen statt. Dirigent Michael Schønwandt holt mit den Kräften des Orchesters und des Chors der dänischen Oper viel Glanz, Dramatik und sattes Theaterblut aus der meisterlichen hochromantischen Partitur. Der dichte Orchestersatz rauscht schwärmerisch auf.
Schønwandt bettet die Sänger auf einen luxuriös gewirkten philharmonischen Teppich in Cinemascopeformat.
Die Sängerschar wird vom Peter Lohdal als König Erik angeführt. Lohdal macht den jung Verliebten mit lyrischer Emphase glaubhaft, hat aber auch genügend metallischen Strahl und Höhe, um in den Orchesterfluten zu bestehen. Lodahl gefällt mir hier wesentlich besser als in der Aufnahme von Schumann/Josts Dichterliebe, die ihm zu tief liegt und wo das ausgeprägte Vibrato den melodischen Fluss hemmt. Der dänische Heldenbariton Johan Reuter (Debüt als Telramund an der Wiener Staatsoper Juni 2021) schlüpft in die Rolle des gehörnten Marschall Stig Andersen. Vom vibratoarmen, bronzeschimmernden Timbre her erinnert er ein wenig an Sigurd Björling. Großartig, wie Reuter die tragische Figur eines Soldaten stimmlich expressiv profiliert, der in den Krieg zieht, die Frau zu Hause zurücklassen muss und sie an einen anderen verliert. Schon im zweiten Akt, als Stig siegreich und zuversichtlich aus der Schlacht heimkehrt, gesteht Ingeborg, dass ihr Mann sie an den eigenen König verloren hat. Im Schloss zurück klagt Stig den König an, Ingeborg vergewaltigt zu haben und schwört ihm den Tod. Mit Hilfe des königlichen Quartiermeisters Rane Johnson (von Gert Henning-Jensen mit kräftig projiziertem und jugendlich forschem Tenor hinreißend gesungen) gelingt eine Verschwörung gegen den König. Waffenlos in einer Scheune wird König Erik von Marschall Stig mit dem Schwert getötet. Der König gibt in der Oper ganz und gar keine vordergründig unsympathische Figur ab, da er wirklich liebt und er seinem Schicksal ahnungsvoll gefasst entgegensieht.
Eine ähnlich psychologisch differenzierte Figur ist Heise mit Lady Ingeborg gelungen. Hin- und hergerissen zwischen echten Gefühlen, Stolz und Opportunismus, erkennt sie Ende des dritten Akts die Aussichtslosigkeit ihres Abenteuers. Als Muse zweier mächtiger Männer zieht sich auf ihr Schloss Hjelm zurück, nicht ohne Stig gebeten zu haben, sich um die gemeinsamen Töchter zu kümmern. Die Sopranistin Sine Bundgaard hat sich in den letzten Jahren erfolgreich und vorsichtig von lyrischen Koloraturrollen hin zu einem dramatischeren Repertoire vorgearbeitet. Als Lady Ingeborg hat sie den gesamten emotionalen Spagat zwischen brutal rücksichtsloser Ehebrecherin und reuevoller Mutter zu spannen. Wie bei vielen nordischen Sopranistinnen sitzt die Stimme vorne, was einen metallisch hallenden Klang erzeugt. Mühelos setzt Bundgaard die Akuti in den Ensembles, der auch in der Mittellage füllige Sopran ist individuell timbriert und bleibt eindrucksvoll im Gedächtnis haften.
Bleibt noch die Köhlerstochter Aase vorzustellen. Bevor der König Lady Ingeborgs Reizen erliegt, ist er vernarrt in die junge Aase und nimmt sie wie einst Don Giovanni die Zerline mit aufs Schloss. Eigentlich ist Rane hinter ihr her, den sie aber nicht liebt und folglich ablehnt. Am Schluss ist Aase die einzige, die treu und ehrlich zum König hält. Als sie ihm das vergessene Schwert bringt, ist es bereits zu spät. Die lyrische Koloratursopranistin Sofie Elkjaer Jensen (sie singt mittlerweile Fiordiligi und Rosalinde) entzückt mit glasklarer Diktion und technisch ausgefeilter Tonproduktion. Wer auf ihrer Website die Gilda-Arie hört, erahnt, dass Maria Callas nicht in der Vorbilder-Galerie fehlen dürfte. Als junge starke Frau der Oper verkörpert sie die unbefangene reine Liebe ohne Hintersinn. Sofie Jensen überzeugt hierbei mit jedem ihrer wohlgeratenen Töne.
Fazit: Eine Aufnahme wie aus einem Guss. Eine großartige Oper wird von einer ebensolchen Besetzung und einem hochengagierten Könner als Dirigenten mustergültig interpretiert. Ein Ereignis!
Vergleichseinspielung: Michael Schønwandt hat die Oper bereits 1993 beim Label Chandos herausbringen können. Mit Paul Elming, Bent Norup, Eva Johannson, Inga Nielsen, Kurt Westi hatte er damals die prominentere, keinesfalls aber eindringlichere Besetzung zur Verfügung.
Dr. Ingobert Waltenberger