CD PAUL DESSAU „LANZELOT“ – Oper in 15 Bildern nach Motiven von Hans Christian Andersen und der Märchenkomödie „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz; Audite
Live Mitschnitt aus dem Deutschen Nationaltheater Weimar vom 13.11.2019
Eine politische Oper von Gute gegen Böse, wobei mit Gut die Titelfigur Lanzelot als Symbol für die Befreiung von jeglicher Ausbeutung (er steht für freies Denken und Handeln) und mit Böse oder dem Drachen der Faschismus bzw. die imperialistische USA (Vietnamkrieg) gemeint war.
Paul Dessau hat diese Oper nach einem Libretto von Heiner Müller und dessen späterer Gattin Ginka Tscholakowa als 66-jähriger geschrieben. Am 19. Dezember 1969 wurde „Lanzelot“ in der Ostdeutschen Staatsoper in der Inszenierung von Dessaus Frau Ruth Berghaus uraufgeführt. Herbert Kegel dirigierte, auf der Bühne sangen u.a. Siegfried Vogel (Lanzelot) und Reiner Süß (Drache), Renate Krahmer war die Elsa. Dessau widmete die Oper anlässlich des 20. Jahrestages der Gründung der DDR „allen, die in unserer Republik für den Sozialismus kämpfen und arbeiten“. 1971 wurde „Lanzelot“ an der Bayerischen Staatsoper herausgebracht, 1971/72 fand in Dresden die letzte Neuinszenierung in einer revidierten Version statt, dann war Schluss. Erst am 23. November 2019 wurde der monumentale „Lanzelot“ mit über 200 Mitwirkenden am Deutschen Nationaltheater Weimar für eine Neuproduktion (Regie Peter Konwitschny; musikalische Leitung Dominik Beykirch) wieder ausgegraben. Die Erfurter Übernahme fiel der Corona-Pandemie zum Opfer.
Dieser Paul Dessau war eine schillernde Persönlichkeit. Er war der Sohn eines jüdischen Tabakhändlers aus Hamburg, als Dirigent lernte er von Otto Klemperer in Köln und Bruno Walter in Berlin. Kompositorisch folgte Dessau zunächst der Neuen Sachlichkeit eines Hindemith, bevor er für den Film schrieb, Kampflieder für die internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg schrieb (der Song „Die Thälmannkolonne“ wird in Lanzelot zitiert) und in den USA mit Bertold Brecht zusammenarbeitete.
Komponist Hans Werner Henze, der seinem Kollegen freundschaftlich verbunden war, notierte im Gelleitwort zu „Paul Dessau 1894-1979 Dokumente zu Leben und Werk: „Es haftete diesem Aktivisten eine gewisse soldatische Strenge an, von der alten Art, er nahm gewissermaßen Haltung an, die Haltung eines Stabsoffiziers, wann immer er sich in Zusammenhang mit seinem Staat und dem Sozialismus sah… Die DDR war für ihn Heimat, in die er nach der Befreiung vom Nazifaschismus aus der amerikanischen Emigration hatte zurückkehren können, um endlich doch noch seine Glücksvorstellungen zu leben und am Aufbau des neuen Landes tatkräftig mitzuwirken.“
Nun liegt der Premierenmitschnitt des „Lanzelot“ aus Weimar auf CD vor. Um einen kleinen Eindruck von der szenischen Einrichtung zu haben, schauen Sie sich den Trailer auf youtube an: https://www.youtube.com/watch?v=EMgGWZOYf48
Ist das Label Wiederentdeckung des Jahres“ laut Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt nun allseits nachvollziehbar? Diese Frage möchte ich mit einem eindeutigen ja beantworten.
Ideengeschichtlich zeigen sich erstaunliche Parallelen zu Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“, was den „Aufwand der Mittel, das Raumkonzept, die stilistische Pluralität und machtkritische Haltung angeht“, analysiert Michael Struck-Schloen in seinem hochinformativen Beitrag für das Booklet. „In der DDR wurde das Werk des BRD-Komponisten Zimmermann nie gespielt, doch spricht einiges dafür, dass ‚Lanzelot‘ eine dezidiert ostdeutsche Antwort auf viele künstlerische und politische Fragen gibt, die in den ‚Soldaten‘ formuliert wurden.“
Einen Riesenorchesterapparat braucht Dessau für sein zeitloses Politmärchen. Zu Streichern, Holz und Blech gesellen sich Saxophon, Mandoline, Gitarre, Akkordeon, Klavier, Cembali, Orgel und ein Riesenschlagzeug. Tonbandaufnahmen und Geräusche aus Lautsprechern ergänzen das akustische Vokabular, das sich in Nummern wie Arien, Liebesduette, Chöre ganz nach herkömmlicher Art teilt. Ein Zerrspiegel und Parforceritt durch die Musikgeschichte von Bach bis Gounod und Wagner bis Jazz samt dissonanter Provokation kennzeichnet diese alle Genregrenzen sprengende Stück Musiktheater sui generis.
In der Oper geht es nicht um die Verherrlichung der kommunistischen Ideologie samt Überwachungsapparat der DDR, sondern sie ist eine beißende Satire auf die allerorten zu findende Bequemlichkeit und den Opportunismus der vielen Menschen, die sich selbst mit Diktatoren oder politischer Willkür faul arrangieren, sich damit identifizieren oder auch nicht, jedenfalls bei Wohlverhalten (kritikloses Lächeln) nach Möglichkeit davon profitieren. Ein Drache, der vor Urzeiten das Volk von der Cholera befreit hat, führt mittlerweile ein totalitäres Regime, wird aber vom Volk geliebt, weil er ihm Ordnung und Konsum garantiert.
Auf der Website des Nationaltheaters Weimars wird der Inhalt knapp so formuliert: „Ritter Lanzelot will Elsa heiraten, die dem Drachen zum Verzehr bestimmt ist, und fordert die Bestie zum Kampf heraus. Das Volk wünscht den Kampf nicht, da es in einem einträglichen Arrangement mit dem Drachen und dessen totalitären Herrschaftsmethoden lebt. Lanzelot gewinnt den Kampf. Während er, obwohl nur verwundet, für tot erklärt wird, schwingt sich die zweite Riege der Herrschenden zum Nachfolger des Drachens auf. Als Lanzelot schließlich zurückkehrt, öffnet er die Gefängnisse und führt den Umsturz des Regimes herbei. Wird die befreite Gesellschaft in der Lage sein, ohne Totalitarismen zu leben?“
Musikalisch war Dessau sicher nicht der Tonsetzer, den sich seine „Genossen im Kulturministerium“ gewünscht haben. Auch inhaltlich hätte eigentlich Feuer am Dach der SED sein müssen. In der resignativen theatralischen Sicht der Dinge, dass auf einen toten Drachen und Despoten („Der Drache spukt in wechselnden Gestalten“) halt ein neuer folgt, ist jedenfalls keine dialektische Fortentwicklung hin zu einem „neuen Menschen“ oder gar eine soziale Utopie zu erkennen. Dem Tyrannenmörder Lanzelot wird kein roter Teppich gerollt, auch er entpuppte sich als Störgeräusch im gesellschaftlichen Fleckerltanz. Da wollen gar nicht alle befreit werden, ob uns das Recht ist oder nicht. Also haben wir es mit einem zeitlos gültigen Sujet zu tun, einem beileibe nicht immer gehörten Apell zu Mut und Freiheit, das die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit erörtert, sie verspottet und musikalisch sarkastisch in Ton setzt.
Der Anspruch an Solisten und Orchester ist immens. Angenehm bzw. kulinarisch sind sicher keine zutreffenden Kategorien, mit denen die Oper – immerhin an die 130 Minuten lang – von meist komplexesten Klangüberlagerungen zu realisieren ist. Dafür wartet die Partitur mit einem eigenen schrägen Humor auf.
Dem gesamten Team ist hoher Respekt zu zollen. Besonders hervorzuheben sind der ungarische Bariton Máté Sólyom-Nagy der als Lanzelot reüssiert und der ukrainische Bariton Oleksandr Pushniak , der als Drache einen glaubhaften Schuft verkörpert. Emily Hindrichs wandelt in der Rolle der Elsa in sopranigen Stratosphären, Wolfgang Schwaninger gibt einen salbungsvollen Bürgermeister, Andreas Koch den Medizinmann.
Dr. Ingobert Waltenberger