Olivier Latry spielt Johann Sebastian Bach in der Kathedrale Notre-Dame beim Label la dolce volta/
Kühne Improvisationen
Der bei Gaston Litaize ausgebildete Organist Olivier Latry widmet sich hier ausschließlich bedeutenden Orgelwerken Johann Sebastian Bachs. Neben den strukturell ausgefeilten Wiedergaben des Ricercare BWV 1079 und der kontrapunktisch reizvollen Fuge BWV 578 sticht die klanglich bewegende Interpretation der Toccata und Fuge in d-Moll BWV 565 deutlich hervor, die vermutlich vor 1710 in Weimar entstand. Mit diesem Werk zieht der 24jährige Bach das musikalische Fazit seiner Lehrjahre als Organist. Die kühne Improvisationskunst macht sich bei Olivier Latrys facettenreicher Interpretation deutlich bemerkbar. Ihn hätten die Orchester-Transkriptionen von Leopold Stokowski besonders interessiert, sagt der Organist. Albert Schweitzer meinte übrigens, dass sich der „wilddrängende Geist“ des Meisters hier „endgültig in die Gesetze der Form gefunden“ habe. Dies lässt sich bei dieser transparenten Wiedergabe überzeugend nachvollziehen. Die vielen improvisatorisch wirkenden Passagen für Manual und Pedal erscheinen dabei zu einer geschlossenen Form zusammengebunden zu sein. Vor allem das Crescendo der gewaltigen Schlusssteigerung gelingt hier ausgezeichnet. Die Cantus-firmus-Effekte der beiden Choräle „Erbarm‘ dich mein, o Herre Gott“ BWV 721 mit Buxtehude-Anklängen sowie „Herzlich tut mich verlangen“ BWV 727 beweisen in der kunstvollen Interpretation von Olivier Latry ihren erstaunlichen Klangfarbenreichtum. Für Latry ist außerdem die Authentizität dieser Musik besonders wichtig, was man sofort spürt. Mit imponierender Klangfülle fesselt dabei Passacaglia und Fuge BWV 582. Das gesamte motivische Material wird hier konsequent ausgelotet – und auch die Seitenthemen erhalten eine gebührende Würdigung. Latry weist übrigens darauf hin, dass Marie-Claire Alain Verbindungen zwischen den Chorälen des „Orgelbüchleins“ und dem tanzartigen Aufbau der Passacaglia herausfand. Bach illustriert in dieser Komposition das Leben Jesu anhand verschiedener Choräle. Auf dieser in jeder Hinsicht bemerkenswerten CD findet man dann auch das „Piece d’orgue“ – das einzige Werk Bachs mit französischem Titel und ebensolchen Satzbezeichnungen wie „tres vitement“, „gravement“ oder „lentement“. Vor allem die graziös-figurativen Passagen erreichen bei dieser Interpretation eine erstaunliche Intensität und Leuchtkraft. Der Stil von Couperin und Grigny schimmert immer wieder nuancenreich durch. Der Choral „In dir ist Freude“ BWV 615 stammt aus dem „Orgelbüchlein“, wo man die Melodie des Chorals kein einziges Mal ganz hört. Außerdem klingen bei Latrys suggestiver Wiedergabe bei einem der mit Pedal gespielten Themen Glockenklänge an. So hat Olivier Latry das kunstvolle Glockenspiel der Orgel in der akustisch gewaltigen Kathedrale von Notre-Dame überaus effektvoll genutzt. Es ist eine Aufnahme entstanden, die man in jeder Beziehung empfehlen kann. Und dies nicht nur, weil sie den Protestanten Bach mit den Geheimnissen des Katholizimus zusammenbringt.
Alexander Walther