CD „NORTHERN LIGHT“ – Echoes from the 17th Century Scandinavia: LUCILE RICHARDOT singt geistliche Musik u.a. vom Hofe Karl XI. von Schweden; harmonia mundi
Wer wissen will, wie es um eine spezielle Form der Endlichkeit menschlichen Lebens im Hohen Norden im Hier und Jetzt bestellt ist, dem sei die aktuell Wogen schlagende Netflix-Serie „Die Åre-Morde“ empfohlen. Nach einer Krimireihe der Autorin Viveca Sten handelt es sich um einen überzeugend erzählten, düster-skandinavischen Thriller noir comme il faut.
Wen das Thema Sterblichkeit von einer höheren Warte aus, im Sinne von musikalisch-religiösen Meditationen über den Wert des Lebens interessiert, d.h. weniger blutig, dafür durch Forschung fundiert und geografisch weitergedacht (nicht nur schwedische geistliche Barockmusik ist hier zu entdecken, sondern auch Motetten aus entfernteren Städten), der sollte lieber zu dem neu erschienenen Album „Northern Light“ greifen.
„Nach und nach weitete sich unsere Erkundung auf die norddeutschen Komponisten aus, die am Ende des 17. Jahrhunderts Brücken bauten zwischen den dynamischen Hansestädten und dem Stockholmer Hof auf der anderen Seite der Ostsee.“
Wie die französische Mezzosopranistin mit dem berückenden Kontraaltklang Lucile Richardot und Sébastian Daucé mit seinem Ensemble Correspondances bereits mit ihrem Album „Perpetual Night“ (2018) anhand von englischen „17th Century Ayres and Songs“ vorexerzierten, kann eine musikhistorisch neu gedachte Programmatik, anhand repräsentativster Beispiele näher gebracht, qualitativ überragend und musikalisch reizvoll zugleich dargeboten werden.
Fast die gesamte zu hörende Musik (Tracks 1-13) stützt sich auf Handschriften der Sammlung Gustav Düben aus der Universitätsbibliothek Uppsala. Dieser Gustav Düben der Ältere leitete im 17. Jahrhunderts die schwedische Hofkapelle mit in der Hochblüte sechzehn Sängern und Orchesterspielern von 1663 bis 1690 und war zugleich ein besessener Partiturensammler.
Die Besonderheit der Musik am schwedischen Hofe im Vergleich zur Musik unter Ludwig XIV. bestand in der breiteren Stilistik des Musiklebens dank des Einflusses von Königin Christina, die schon früh auf die Meisterschaft italienischer, französischer und norddeutscher Musiker setzte. Man reiste eben gerne und das bildet bekanntlich.
Unter den Deutschen fand sich der Sänger und Organist Christian Geist, der auf dem Album mit der Motette „Es war aber an der Stätte, da er gekreuziget ward“ aufhorchen lässt. Ein weiterer norddeutscher Countertenor und Kapellmeister begegnet uns in der Gestalt von Christian Ritter, dessen Weihnachtsmotette „Salve, mi puerule“ mit einer freudigen, alles andere als streng-norddeutschen Atmosphäre überrascht.
Auch Gustav Düben selbst liebte vorübergehende musikalische Ortswechsel und künstlerische Horizonterweiterungen, die ihn u.a. des Öfteren nach Lübeck führten. Dort traf er mehrmals den Organisten der Marienkirche, Franz Tunder, der als einziger Tonsetzer auf dem Album mit zwei Stücken, und zwar der Motette „Jubilate et exultate“ zum Geburtstag des Königs Karl XI. von Schweden sowie „Ack, Herre, lat dina helga änglar“ (=“Ach Herr, lass deine lieben Engelein“) vertreten ist.
Aber nicht nur kunstvolle mehrstimmige Vokalmusik ist es, die Daucé hier zusammengetragen hat. Besonders Interesse verdient der Thomaskantor Sebastian Knüpfer, dessen weltliche „Suite de danses“ (Allemande, Corranta, Balletto, Sarabanda) dem Ensemble Correspondances Gelegenheit gibt, den einzigartigen Klang aus Violinen, Viola da gamba und Violone in verschiedenen Temperamentlagen vorzuführen.
Neben Lucile Richardot wirken in den Ensembles vokalsolistisch noch Caroline Weynants (Sopran), Caroline Bardot (Sopran), Antonin Rondepierre (Taille) und Sebastien Myrus (Bass) mit, die die Nummer „Jubilate et exultate, vivat rex Carolus“, ursprünglich eine Advents-Motette in deutscher Sprache, ohne Frau Richardot bestreiten.
Besondere Juwelen des Albums sind das expressive Lamento „Ach, dass ich Wasser’s g’nug hätte“ von Johann Christian Bach, das wahrscheinlich von dem Sänger Johann Valentin Meder als persönliche Paradenummer mit nach Stockholm gebracht worden war bzw. die Motetten in Solo-Arienform der Italiener Giuseppe Peranda („O Jesu mi dolcissime“) bzw. Vincenzo Albrici („Cogito, o homo“), die am kurfürstlichen Hof in Dresden wirkten. Anm.: Werke in den Stimmlagen Mezzosopran bzw. Alt wurden am schwedischen Hof üblicherweise von Countertenören interpretiert.
Den Abschluss des Albums bildet „Das klagende Schweden-Reich“ aus Anlass des Ablebens von König Karl XI. des aus Augsburg stammenden, ab 1690 in Riga beschäftigten Johann Fischer.
Fazit: Ein Album mit herrlicher Musik zum Innehalten und In-sich-Gehen. Lucile Richardot sorgt mit ihrem üppigen, verschwenderisch reich timbrierten Luxus-Alt für ein vokales Wonnebad der Sonderklasse. Spirituelle Musik um Sein oder Nichtsein in überwiegend leiseren Tönen, nichtsdestotrotz in sinnlicher Klangpracht serviert.