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CD NIKOLAUS HARNONCOURT DEBÜT – Antrittskonzert bei den Mozartwochen Salzburg 1980 plus Probenmitschnitt vom 10. Juni 2006 aus dem Großen Saal des Mozarteums; Belvedere

12.11.2023 | cd

CD NIKOLAUS HARNONCOURT DEBÜT – Antrittskonzert bei den Mozartwochen Salzburg 1980 plus Probenmitschnitt vom 10. Juni 2006 aus dem Großen Saal des Mozarteums; Belvedere

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„Sollen wir das spielen, was in den Noten steht, oder das was gemeint ist?“Wenn alles nach den Regeln wäre, wäre alles nix. Die Kunst beruht auf Regelübertretungen.“ N. Harnoncourt

Um nicht mehr taufrische Ware anzupreisen, wird bald irgendeinem Kompromiss in Politik oder Gesellschaft das Taferl „historisch“ untergejubelt. Hingegen war die Woche vom 28.1. bis 3.2.1980 in Sachen Mozart-Interpretation ganz sicher kulturhistorisch eine Riesengschicht‘. Da debütierte Nikolaus Harnoncourt am Dienstag mit dem Concertgebouworkest Amsterdam bei der Mozartwoche in Salzburg als womöglich polarisierendster Dirigent seit der Gründung dieser „Festwoche“ für den musikalischen genius loci im Jahr 1956.

Am Freitag derselben Woche gab Karl Böhm seinen letzten Auftritt bei der Mozartwoche mit den späten Symphonien in Es-Dur KV 543, in g-Moll, KV 550 und in C-Dur, KV 551. Im Jahr 1979 hatte Karl Böhm an der Wiener Staatsoper die Inszenierung des jungen Dieter Dorn der „Entführung aus dem Serail“ dirigiert unter Anwesenheit der Präsidenten der USA, Jimmy Carter und der Sowjetunion, Leonid Breschnew, die nach Wien zur Unterzeichnung des Salt II Abrüstungsabkommens zur Begrenzung der atomaren Langstreckenraketen gereist waren. Wer dabei war, erinnert sich sicher noch, mit welch enthusiastischem Jubel (und einem Riesenblumenstrauß am Pult) Böhm im Vergleich zu den mächtigen Staatschefs vom Publikum empfangen worden war. Böhm galt damals als sowas wie der Gralshüter der Musik Mozarts und war es auf seine Art gewiss. Aber die Aufführungsrezeption Mozarts hörte nicht mit dem Tod Karl Böhms am 14.8.1981 auf, sondern bekam u.a. mit diesem Harnoncourt-Konzert vom 29.1.1980 einen gewaltigen neuen Impuls, zumindest in Salzburg. Wir erinnern uns: Schon 1957 fand das erste Harnoncourt Konzert unter dem Namen Concentus Musicus Wien statt, bereits in den frühen Siebziger Jahren hatte Harnoncourt mit den Monteverdi Opern „Il ritorno d’Ulisse in patria“ & Co Musikgeschichte geschrieben.

Harnoncourts Interpretations-Säulenheilige fanden sich im Programmheft als originärer Aufsatz „Zu Notenschrift und Artikulation bei Mozart“ verewigt. Harnoncourt unterschied das, was notiert war von dem, was nicht, weil es zur Zeit der Entstehung einfach als selbstverständlich galt. Das ist wie beim Kochen nach einem alten handgeschriebenen Rezept aus Omas Zeiten, wo nur rudimentäre Mengen und Gewichtsangaben vermerkt sind, der Rest nicht, weil er für den informierten Kommunikationspartner unter „eh klar“ firmierte.

Schon bei Beginn der Ouvertüre zur Oper „Die Zauberflöte“ wird ohrenfällig, wie sehr Harnoncourt durchgängig duftiger Zartheit und märchenhafter Grazie bei Mozart eine harte Absage erteilt. Die explosiv losschmetternden Pauken, die Unterbrechung des musikalischen Flusses durch das, was Harnoncourt als Artikulation oder Rhetorik bezeichnet, mag man mögen oder nicht. Willkürlich war da gar nichts  denn Harnoncourt stützte sich streng auf umfassende Quellenstudien, um die originäre Wahrhaftigkeit der Musik offenzulegen. Fragen der Phrasierung, des Bogenstrichs, der Dynamik und des Tempos, des Verhältnisses von Hauptstimmen zu Begleitfiguren wurden von Harnoncourt minutiös analysiert, neu gedacht und unermüdlich Musikern wie Publikum erklärt. Natürlich klingt bei Harnoncourt nicht alles ruppig und aufgeraut stürmisch (wie der Beginn der „Haffner“ Symphonie, KV 385) und schon gar nicht „gewollt“ anders. Harnoncourt wollte im Grunde Mozarts und anderer Komponisten Werk von bequem gewordenen Aufführungstraditionen und damit inhaltlicher Nivellierung lösen. Harnoncourt konnte natürlich unglaublich poetisch und feinzeichnend an die Sache gehen, wie im Andante der Symphonie in D-Dur KV 385 zu hören ist. Im Presto geht es dann wieder erfrischend forsch zu. Erfreulich wie Tau am Morgen erklingt das Konzert für Oboe in C-Dur, KV 314 gelungen mit Werner Herbers als Solisten mit eigener Kadenz.

Nikolaus Harnoncourts Sicht der historisch informierten Aufführungspraxis konnte sich in der Folge im Laufe der Jahre in Salzburg festigen und feierte allerorts einen unglaublichen Siegeszug. Dutzende von Dirigenten, darunter Charismatiker wie Jacobs, Minasi oder Currentzis haben sich – auch mit Orchestern auf modernem Instrumentarium – seither viele der von Harnoncourt zu neuen Standards gereiften Spezifika zu Eigen gemacht, sie persönlich angereichert und individuell fortentwickelt.

Dabei ist auch Harnoncourt selbst nie selbstgenügsam stehen geblieben, sondern hat bis zuletzt gesucht und getüftelt. Bei den Proben zum letzten großen Da Ponte Opern-Zyklus im Theater an der Wien im März 2014 wollte Harnoncourt noch das Rezitativ aus der Starre der Noten lösen und hat einen freien Sprechgesang propagiert, der der Sprachmelodie und dem Timing des Interpreten eher folgt als einer vorgegebenen Tonhöhe oder Tempo.

Die 3 CD-Box gibt sich nicht mit der Wiedergabe des bis heute für manche Ohren wahrscheinlich nach wie vor radikal wirkenden Konzerts aus dem Jahr 1980 zufrieden, sondern enthält auf zwei weiteren CDs den Orchesterworkshop vom 10.6.2006, wo Harnoncourt wortwitz- und sprachbilderreich im Großes Saal der Internationalen Stiftung Mozarteums mit der Camerata Salzburg Mozarts Symphonie in g-Moll, KV 183 sezierte. 

Der knapp 110-minütige Probenmitschnitt aus dem Jahr 2006 ist besonders aufschlussreich und für diejenigen, die sich für Harnoncourts musikalisches Universum und Eloquenz interessieren, unverzichtbar. Die Partituren bis 1800 mussten schön anzusehen sein und das Werk zeigen, aber geben nicht an, wie es gespielt wird.“ Der Gesamtkomplex der Artikulation wurde nur dann hingeschrieben, wenn der Komponist es anders wollte, als es Konvention war.

So heißt „Staccato“ nur „nicht binden“, gibt aber nicht Aufschluss darüber, ob die Noten kurz oder breit zu spielen sind. Humorvoll erklärt Harnoncourt das Tänzerische der Spielweise mit „Umpa“. So wie die Tuba die Betonung in einer ländlichen Blaskapelle bläst, müsse es sein. „Spielen sie das als Tanzerzählung.“

Überhaupt weist Harnoncourt das Gewicht, den spezifischen Platz eines jeden einzelnen Instruments in jeder Phase der Symphonie in unglaublicher Detailliertheit zu. Dabei singt Harnoncourt vieles vor, nutz aber auch wirkungsvolle Sprachbilder, um das zu bekommen, was er will. Exempel gefällig? „Das wäre am falschen Bein Hurra gesagt.“ „Und da machen Sie ein Crescendo, dass die Hörner gelb aufglühen.“

Ausführlich widmet sich Harnoncourt der Frage, was denn eine „Wiederholung“ sei? Der aufmerksame Hörer wird sich das Thema merken, daher hat es sich falsch eingebürgert, dass eine Wiederholung eine „Turngerät für Verzierungen“ sei. „Das ist ein wahnsinniger Irrtum. Eine Wiederholung einer noch neuen Information ist keine Wiederholung. Wenn etwas in eine teil A gesagt wird, dann wird das in B-Teil erklärt.“

Zum Thema „Verzierungen“ fallen Harnoncourt ebenso klare Worte ein. Im Vergleich zu Mozart wären unsere Verzierungen die „von Würmern.“ Verzierungen sind für die Zeitgenossen geschrieben. Unsere Zeit hat dieser Verzierungen nicht. „Das ist so, wie wenn Sie auf einem modernen Haus barocke Schnörkel anbringen.“  Wir sprechen letztendlich die Sprache unserer Zeit. Und daher: „Ob man alles machen soll, was man weiß, ist fraglich. Das Leben, das diese Musik hat, das Feuer, muss man immer wieder neu entfachen.“

Bei Fragen, wo die Antworten weniger eindeutig oder historisch gesichert sind, bleibt Harnoncourt bescheiden: „Das ist das, was ich glaube, wissen kann ich’s nicht. Ich habe leider kein Telefon.“ (Anm.: zu Mozart).

Was mit gesichert scheint, dass Harnoncourt neue und aufregende Töne bzw. ein den emotionalen Gehalt eines Werks scharfzeichnendes Verständnis mit in die Musikinterpretation eingebracht hat. Da geht es nicht ums bloße „gefallen oder nicht gefallen“, sondern um Wahrhaftigkeit, die sich halt niemals nur in purer Schönheit, sondern vielmehr in Kontrasten und der Dialektik von  Aktion zu Reaktion  ausdrücken lässt.

Ich möchte auf jeden Fall weder Karl Böhm noch Nikolaus Harnoncourt als Mozart-Dirigenten missen. Beide, und sie waren nicht die einzigen, hatten unendlich viel zu Mozart zu sagen und das in unzähligen Konzerten, Opernaufführungen und Plattenproduktionen bewiesen. Es liegt am Typus des Hörers, an seiner Tagesverfassung oder Stimmung, wie und von wem interpretiert er Mozart heute hören möchte. Freuen wir uns dank der Fülle an Tonträgern über diesen Reichtum an Sichtweisen und speziell über diese neue Publikation, die mit großer Liebe und Respekt gestaltet und kommentiert (Ulrich Leisinger) ein wesentliches Kapitel der Salzburger Mozartrezeption verewigt hat. Auch klangtechnisch bleiben keine Wünsche offen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

 

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