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CD NIKOLAI KAPUSTIN Klavierkonzert Nr.5, Concerto für 2 Klaviere, Sinfonietta für Klavier zu vier Händen; FRANK DUPREE, ADRIAN BRENDLE, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin; CAPRICCIO

28.01.2023 | cd

CD NIKOLAI KAPUSTIN Klavierkonzert Nr.5, Concerto für 2 Klaviere, Sinfonietta für Klavier zu vier Händen; FRANK DUPREE, ADRIAN BRENDLE, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin; CAPRICCIO

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Aller guten Dinge sind drei: Frank Dupree veröffentlicht sein drittes Kapustin-Album. Nach dem vierten Klavierkonzert sowie der CD „Klaviermusik für Jazztrio – Blueprint“ begeistert der deutsche Pianist, diesmal gemeinsam mit dem kongenialen Adrian Brendle, beide Absolventen der Hochschule für Musik Karlsruhe, mit weiteren Entdeckungen aus dem umfangreichen Schaffen des russischen Komponisten Nikolaus Kapustin.

Der in der Ostukraine gebürtige und am Moskauer Konservatorium ausgebildete Kapustin begeisterte sich schon früh für Jazz. Schon als Student am Moskauer Konservatorium war Nikolai Jazz-Pianist, Arrangeur und Komponist. In den 60-er Jahren war er mit seinem Quintett, als Pianist in der Bigband von Juri Saulsky oder im Orchester von Oleg Lundstrem zu hören. Ab 1972 kamen Aufgaben als Pianist des klassischen Repertoires im Großen Symphonieorchester des Moskauer Rundfunks dazu.

Wie schwierig es Kapustin mit der Anerkennung seiner Werke in der Sowjetunion hatte, können wir nur erahnen. Erst als seine Werke vom Mainzer Verlagshaus Schott gedruckt wurden, begann sich die internationale Musikwelt näher für ihn zu interessieren. Die Diskographie vor allem von Stücken für Klavier solo ist dank der Initiativen der Verlage Capriccio, Naxos, Sony oder Piano Classics durchaus ansehnlich, auch die beiden Cellokonzerte (Eckhard Runge, Alexander Zagorinsky) liegen in empfehlenswerten Einspielungen vor.

Aber erst Frank Dupree hat mit seiner stupenden pianistischen Bravour, seinem glühenden persönlichen Einsatz und letztlich seinen maßstabsetzenden Aufnahmen für jene glamouröse Publizität gesorgt, die uns das Genie Kapustins erst in all der stilistischen Bandbreite begreifen lässt.

Das Fünfte Klavierkonzert Op. 72, 1993 für den Pianisten Nikolai Petrov geschrieben, zeichnet sich durch eine unglaubliche Virtuosität aus. Die stilistischen Parallelen zur US-amerikanischen Musiktradition und insbesondere George Gershwin werden immer wieder hervorgehoben. Natürlich hat aber keine Stadt Jazz und das damit verbundene Improvisatorische, den responsiven Schaffensakt im Austausch mit einem energetisch elektrisierten Publikum gepachtet. Was Frank Dupree mit seinen Jazz Genen im Blut und dem brillanten Steinway Sound hier aufs „Parkett“ legt, übertrifft noch die pianistische Tour de Force der beiden ersten CDs. Der Hörer könnte den Eindruck gewinnen, dass alle Lichter im nächtlichen Großstadtpanorama gleichzeitig angehen und einen roten Teppich direkt zur imaginären Konzertbühne ausrollen.

Jazz ist Musik, die wir mit verrauchten Kellern, Bars und Klubs in New Orleans, Chicago, Paris, Berlin oder Moskau bzw. Konzertorchestern auf allen fünf Kontinenten assoziieren. In den 20-er Jahren war es in der Sowjetunion vor allem der Dichter und Tänzer Valentin Parnach, der gemeinsam mit dem Avantgarde-Theaterregisseur Wsewolod Meyerchold Jazzkonzerte veranstaltete und dazu auch selbst tanzte. Man stelle sich vor: Schallplatten und Noten existierten kaum bis nicht. Ein paar Takte da ein paar dort. Und dennoch begann der russische Jazz zu florieren und ein Eigenleben zu entfalten, wie derjenige der „AMA-Jazzband“ von Aleksander Zfasman oder später im rätselhaft schönen Werk Nikolai Kapustins. Nur zuhören muss man schon genau.

Nach den fürchterlichen Unterdrückungen der 30-er Jahre samt Arbeitslager und der Ermordung missliebiger Künstler wird Jazz in Estradenmusik umbenannt. Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wurde formalistische Musik von u.a. von Shostakovich und Prokofjev als „fremd“ qualifiziert. Das Wort „Jazz“ wurde bis auf weiteres aus dem Sprachgebrauch gestrichen und das Saxophon verboten. Unter solchen Umständen begann sich der ganz junge Kapustin (1937-2020) genau für diese Musikrichtung zu begeistern. Wenn verwunderts, wenn er das bis zuletzt am liebsten in aller Stille im Hinterzimmer tat und Rummel um seine Person scheute.

Auf dem Album hören wir an zweiter Stelle ein späteres Werk des Komponisten, nämlich das Konzert für 2 Klaviere und Schlagzeug Op. 104 aus dem Jahr 2002. Ist es zu vermessen, dieses lichtglitzernde, unterhaltsame, das Leben überschwänglich feiernde und dennoch formal durchaus konzis gefasste Stück als Hymnus an Freiheit in einem (vermeintlich) neuen Russland aufzufassen? Wir erinnern uns: Am 28. Mai 2002 wird der Nato-Russlandrat aus der Taufe gehoben. Das Gremium soll im Rahmen der Rüstungskontrolle unter anderem der Fortführung von Konsultationen über den KSE-Vertrag dienen. Der Kalte Krieg scheint damit offiziell der Vergangenheit anzugehören. Sogar über eine künftige EU- oder gar NATO-Mitgliedschaft Russlands soll in diesen Tagen gelegentlich spekuliert worden sein. Wie rasch sich die Geschichte wieder in ihr grausames Gegenteil drehen kann…

Rein musikalisch ist von einem echten Ereignis zu berichten: Frank Dupree und der ebenso junge Adrian Brendle formen Kapustins ausgelassene Konzertsession in wirbeliger Konkordanz mit den Schlagzeugern Meinhard ‚Obi‘ Jenne und Franz Bach unter der musikalischen Leitung von Dominik Beykirch und dem stilsicheren Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin zu einem pastosen Big-Band Sound voller irrlichternder Sternschnuppenklänge.

Den Abschluss des Albums bildet die Sinfonietta für Klavier zu vier Händen Op. 49 mit den Sätzen Ouvertüre, Allegro; Slow Waltz, Larghetto; Intermezzo, Allegretto und Rondo, Presto. Im Auftrag des sowjetischen Kulturministeriums 1987 zuerst für Orchesterfassung gesetzt, erklingt die „kleine Symphonie“ hier in einem Arrangement des Komponisten für Klavier zu vier Händen. Die beiden Stimmungskanonen Dupree und Brendle fegen wie ein tosender Wirbelwind über die Tastatur, machen im dreivierteltaktig schmachtenden Slow Waltz Bella Figura, bevor sie uns mit vertrackten Rhythmen und einem furiosen Finale aus dem Album hinaus in die Stille eskortieren.

Einfach genießen und von einer besseren Welt träumen!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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