CD NICOLAUS RICHTER DE VROE #48, #49: Violinkonzert, Avenir, Tetra, Shibuya Movements, Euforia; BR KLASSIK musica viva
Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks, dirigiert von Kalitzke, Rundel, Halffter und Jansons
„Man muss die Ohren immer offenhalten. Man kann nicht mit Scheuklappen vor den Ohren durch die Welt gehen. Das gilt für sämtliche Klänge, die uns umgeben.“ Nicolaus Richter de Vroe
Die CD-Edition Musica Viva des BR versteht sich als Dokumentations-Reihe für zeitgenössische Komponistinnen und Komponisten, in der Konzerte, musica viva Produktionen und historische Mitschnitte aus den Archiven des BR publiziert werden.
Zwei der neuesten Alben befassen sich mit dem Schaffen des in Dresden und am Tchaikovsky-Konservatorium Moskau ausgebildeten Musikers Nicolaus Richter de Vroe. Ab 1980 wirkte Richter de Vroe als Geiger in der Staatskapelle Berlin. 1982 gründete er das Ensemble für Neue Musik Berlin (Ost). 1988 wurde Richter de Vroe Mitglied des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und rief das XSEMBLE München ins Leben. Experimentelle Neugier und stilistische Offenheit, die beiden Schlagworte für die Programmatik von XSEMBLE, prägen auch die Kompositionen von Richter de Vroe. Von den vielen Aktivitäten Richter de Vroes möchte ich vielleicht noch eine nennen: 1996 markierte auch die Geburtsstunde der Münchener Gesellschaft für Neue Musik, in der sich Richter de Vroe mit anderen der Vermittlung und Förderung zeitgenössischer Musik verschrieb. Kein einfacher Job, leidet doch ein erklecklicher Teil des zeitgenössischen Musikschaffens an (allzu) verkopften Konzepten, dem übermäßigen Einsatz von Geräuschen, kurz und gut schrecklicher Furcht vor Genießertum jeglicher Art. Grosso modo tut da selbst bei gutem Willen eine mit Anstrengung verbundene Mehrarbeit not.
Die folgende Besprechung nimmt auf das Album #48 Bezug. Darauf ist das 2022 uraufgeführte Violinkonzert mit Ilya Gringolts als Solist und „Avenir“ für Orgel, Chor und Orchester (Orgel Wolfgang Mitterer) zu hören. Beide sind infolge von Kompositionsaufträgen der musica viva des BR entstanden.
Im Violinkonzert beruft sich der Komponist explizit auf Hörerfahrungen von Werken Ligetis, auf Feldmans „Violin and Orchestra“ sowie auf ‚Klänge der Nacht‘ (Nr. 4) aus Béla Bartóks Klaviersuite „Im Freien“. Aber auch außermusikalische Eindrücke – in der Regel verfängt der Synästhet Richter de Vroe auf abstrakte bildende Kunst – im konkreten Fall Sigmar Polkes surreales Gemälde „Paganini“ bestimmten mit seinem „komischen Humor und Skurrilität“ den Kompositionsprozess. Den Hauptsatz des siebensätzigen Violinkonzerts inkl. Kadenzen und Nocturnes beschreibt Richter de Vroe so: „Dort geht es ziemlich drunter und drüber. Da herrscht eine wahre Raserei mit sehr viel Motorik, Abwechslung und vielen – ich würde fast sagen – schlimmen Überraschungen!“
Im 7. Satz ‚Zwei Ausgänge‘ – eine szenisch theatralische Inszenierung, in der der Solist das Instrument wechselt – steht eine verstörende autobiographische Erfahrung im Zentrum: Dem 1955 geborenen de Vroe wurde einmal im Herkulessaal München seine Violine gestohlen. Aber auch Naturerfahrungen mit Wind und Vogelrufen und die japanische Mundorgel Sho spielen in dem Konzert eine Rolle.
Auf dem Album meistert Ilya Gringolts mit todeskühner Bravour die technischen Herausforderungen. Bei der Aufnahme unter der musikalischen Leitung von Johannes Kalitzke vom Oktober 2022 aus dem Herkulessaal der Residenz handelt es sich um den Mitschnitt der Uraufführung.
Avenir für Orgel, Chor und Orchester geht auf einen Auftrag der musica viva des Bayerischen Rundfunks 2013/14 zurück. Auf dem Album ist der Mitschnitt der Uraufführung vom 6. Juni 2014 mit Wolfgang Mitterer (Orgel), dem Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, ebenfalls unter Leitung von Johannes Kalitzke zu erleben. Das für Chor vertonte surreale Gedicht “Avenir“ stammt vom abenteuerlustigen belgisch-französischen Dichter, Zeichner und Maler Henri Michaux.
Der aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts stammende französisch sprachige Text ist gerade heute von großer Aktualität, als das „lyrische Ich“ nach der Auslegung des Komponisten ins Heute übertragen die „innere Zerrissenheit zwischen Zukunftsangst und Fortschrittsglauben“ einfängt. Emotionale Manifestationen, die in der totalen Überforderung mit und der Angst vor dem technisch-lichtgeschwinden Fortschritt vieler (Stichworte: Nimmt uns KI die Arbeitsplätze weg? Wohin führen uns neue Kriegstechnologien wie Weltraumwaffen?) zu Recht bedeutsam sind.
Die vielgestaltige wie oft mehrdimensional wirkende Musik, die sich insbesondere am Melos der Sprache des in neun Sequenzen untergliederten, nicht linear vertonten Textes orientiert, scheint einen aus der Vergangenheit begriffenen dystopischen Raum und uns alle mitten drin als Zeugen einer völlig zerrissenen conditio humana zu beschwören. Das Orchester mit Instrumenten wie Serpent, Clavichord oder E-Gitarre versteht de Vroe „einerseits als eine Art Hintergrund für den Chor mit seinen Phonemen und seinem Text, andererseits als einen Resonanzraum.“
In der musikalischen Umsetzung gebührt dem Chor des Bayerischen Rundfunks für die stupende rhythmische Präzision und vorbildliche Artikulation ein Sonderlob. Bei all den komplexen Glissandi und solistischen Einwürfen (von „Roboter“, „Zirkusdirektor“ bis zum „Demo-Sprecher“) könnte dann und wann an vielstimmige polyphone Renaissance-Strukturen gedacht werden.
Fazit: Lohnende Alben für Mutige und Aufgeschlossene. Die musikalische Umsetzung bzw. die Aufnahmetechnik sind in jeglicher Hinsicht, wie beim BR nicht anders zu erwarten, ganz große Klasse. Konzentriertes Hören erforderlich. Dafür winken ungeahnte (raum)klangliche Erfahrungen. Die Booklets enthalten umfangreiche Informationen zu den Werken bzw. mit „Sprünge über Schatten“ ein aufschlussreiches Gespräch von Nicolaus Richter de Vroe mit Michael Zwenzner.
Dr. Ingobert Waltenberger