CD NICCOLÓ JOMMELLI – „Missa Pro Defunctis“ in Es-Dur, „Libera Me“ in c-Moll, „Miserere“ in g-Moll, IL GARDELLINO; Passacaille
Der Neapolitaner Niccolo Jommelli war in seinem 39. Lebensjahr, als er dank seiner Meisterschaft im Operngeschäft, aber auch als innovativer Komponist sublimer Kirchenmusik zwischen dem Ruf an die Höfe von Lissabon, Mannheim oder Stuttgart wählen konnte. Vorher schrieb er Opern für Rom, leitete als Maestro del coro die Vokalmusik am Ospedale degli Incurabili in Venedig und wirkte zwei Jahre im Auftrag der Habsburger in Wien. Gemeinsam mit Pietro Metastasio strebte er nicht weniger als eine Reform der opera seria an und wurde dadurch musikhistorisch zum Vorläufer der Wiener Reformoper von Gluck und Calzabigi.
Dass sich Jommelli 1753 für Stuttgart entschied, hatte gute Gründe: Karl Eugen, Herzog von Württemberg, war nicht nur Schüler von Carl Phillip Emanuel Bach, sondern auch ein leidenschaftlicher musischer Geist, der für seinen Hof ehrgeizige Pläne hegte. Er sollte zu einem der glanzvollsten in ganz Europa werden. Die beste Musik, Oper und Tanz sollten überall von der Glorie des Herrschers zeugen. So ließ er sein altes Lustschloss zu einem luxuriösen Opernhaus mit 4000 Sitzplätzen (!) umbauen. Jommelli konnte in seiner Funktion als Hofkapellmeister das Orchester auf über 50 Instrumentalisten verdoppeln.
Die vorliegende CD wurde vom hervorragenden Vokalensembles und Barockorchesters „Il Gardellino“ realisiert, das seinen Namen Antonio Vivaldis Konzert R90 für Flöte, Oboe, Fagott und Basso Continuo „Del Gardellino“ entlehnte – was „Distelfink“ bedeutet. Unter der musikalischen Leitung von Peter Van Heughen hören wir drei reife geistliche Werke Jommellis aus der Stuttgarter Zeit, die nicht für den täglichen Gottesdienst bestimmt waren, sondern für spezielle Anlässe komponiert wurden. Sechzehn Jahre sollte Jommelli in Stuttgart die musikalischen Geschicke leiten, worin auch die Kirchenmusik umfasst war.
Das Requiem „Missa Pro Defunctis“ samt dem abschließenden Responsorium „Libera me“ hat Jommelli 1756 für den Begräbnisgottesdienst von Maria Augusta von Thurn und Taxis, des Herzogs Mutter, geschrieben. Da er nur wenige Tage für die Komposition zur Verfügung hatte, griff Jommelli in sechs Teilen des Requiems auf Fragmente früherer geistlicher Werke zurück. Jommelli lässt in den neu verfertigten Teilen den stile osservato bei dem die Streicher die vokale Polyphonie lediglich verdoppeln, hinter sich und sieht für das Orchester wesentlich eigenständigere Aufgaben in Affektgestaltung und Tonmalerei vor. Dieses Jommelli-Requiem war zwischen 1770 und 1830 das populärste und am häufigsten gespielte Requiem der Welt. Das wird beim Anhören dieses vorzüglichen Albums vollkommen verständlich, das dem späteren „Platzhirschen“ Mozart-Requiem in der Originalität der feierlichen Eingebung, der Dramatik der Emotionen und der universell verständlichen Sprache kaum nachsteht. Dutzende von Abschriften des Werks fanden sich überall in Europa und auch den USA.
Was für den absoluten Ausnahmerang der Einspielung sorgt, ist das überragende achtstimmige Vokalensemble von Il Gardellino. Die acht Sängerinnen und Sänger – ich bitte Gudrun Sidonie Otto, Miriam Feuersinger Sopran; Helen Charlston, Gaia Petrone Alt; Daniel Johannsen, Valerio Contaldo Tenor; Sebastian Myrus, Wolf Matthias Friedrich Bass applaudierend vor den Vorhang – agieren in den chorischen und solistischen Passagen gleichermaßen brillant. Gleich ob es sich um Rezitative, Choräle oder komplexe kontrapunktische Geflechte handelt, die acht Kammerchoristen singen stets intonationsmäßig auf dem Punkt. In Phrasierung, Reinheit des Tons, der klanglichen Schönheit, als auch dem gestalterischen Vermögen bleiben selbst für den verwöhntesten Musikfreund keine Wünsche offen.
Die CD enthält im zweiten Teil das „Miserere“ (Psalm 50) in g-Moll für vier/ fünf Stimmen und basso continuo. Das Miserere (oder Tenebrae) war ein fester Bestandteil der Matutin während der letzten drei Tage der Karwoche. Auch hier ist die damalige Popularität des Werks frappant: 35 handschriftliche und gedruckte Exemplare in 23 europäischen und amerikanischen Bibliotheken sind erhalten. Die Künstler haben sich für Quellen aus dem 19. Jahrhundert entschieden, die sich in Berlin und Leipzig fanden. Zudem entschieden sie sich für eine metrische Ausführung im Gegensatz zur rhythmisch freien Interpretation mit einem standardisierten Tempo mit etwa einer Note pro Sekunde. Ich stimme mit dem Dirigenten überein, wenn er meint, dass „der feierliche, erhabene offizielle und daher leicht neutrale Charakter der gregorianischen Verse dadurch in noch größerem Kontrast zum großen Pathos von Jommellis Polyphonie steht.“
Wer noch nichts von Jommelli kennt/hat, sollte die Gelegenheit nutzen. Von Jommellis Opern schätze ich besonders die Aufnahme von „Armida Abbandonata“ aus den 90-er Jahren vom Festival de Beaune mit Malas-Godlewska, V. Gens, Petibon und Gilles Ragon unter dem Dirigenten Christophe Rousset. Aber auch auf DVD erhältliche Oper „Il Vologeso“ aus Stuttgart aus dem Jahr 2015 unter Gabriele Ferro ist ein Empfehlung wert.