CD Nationaltheater Belgrad – Sieben große russische Opern 1955, Profil Hänssler
Eines der unglaublichsten Aufnahmeprojekte der Schallplattengeschichte
Ivan Sussanin, Boris Godunow, Chovantshchina, Schneeflöckchen, Fürst Igor, Eugen Onegin, Pique Dame
Bayreuth 1955: Die britische Decca experimentiert in Bayreuth live mit Stereo. „Der fliegende Holländer“ sowie der komplette “Ring des Nibelungen” kamen so zu ihrer spektakulären Stereo-Premiere. Dem Team der Decca-Tontechniker gehörten damals neben Kenneth Wilkinson Roy Wallace sowie Gordon Parry an. Mit Hilfe eines von Roy Wallace stammenden Sechs-Kanal-Mischpults wurden sowohl Stereo- als auch Mono-Abmischungen erstellt. Sechs Mikros reichten. 2006 sind die Aufnahmen beim Label Testament erschienen, Meilensteine des mythischen Decca Sounds.
Schon im Februar 1955 trafen sich Wilkonson und Wallace in Belgrad, um ein anderes gigantisches Aufnahmeprojekt jenseits des Eisernen Vorhangs in Angriff zu nehmen: Mit den Kräften des Nationaltheaters Belgrad sollten sieben Studio-Gesamteinspielungen russischer Opern entstehen, Fürst Igor und Chovantshchina im Februar 1955, zwischen 5. September und 10. Oktober folgten Eugen Onegin, Pique Dame, Schneeflöckchen und Ivan Sussanin. Nur Boris Godunow wurde – räumlich am besten abgebildet – in Zagreb aufgenommen. Hintergrund war folgender: Das Belgrader Ensemble war gerade von einer Tournee durch die Schweiz mit “Boris Godounow” zurückgekommen und wollte international auf sich aufmerksam machen, und die Decca suchte nach Möglichkeiten, ihren noch schmalen, aber schnell wachsenden Katalog an Stereo-Aufnahmen und Aufnahmen des russischen Opernrepertoires kostenschonend zu erweitern.
Die Umstände, unter denen das Decca-Team und die Musiker arbeiten mussten, waren ungemein anstrengend. Als Aufnahmeort wurde nämlich der Kinosaal im Haus der Kulturen im Zentrum Belgrads gewählt. Das bedeutete folgendes: Der Saal stand erst ab 23 Uhr zur Verfügung, vorher gab es Vorträge und Filmvorführungen. Nach Ende der Spätvorstellung mussten erst die Sitze raus, an deren Stelle Mikros und Aufnahmeequipment trat. Um Mitternacht konnte mit den Aufnahmesitzungen begonnen werden, die bis in die frühen Morgenstunden andauerten. Danach galt erst wieder, Mikros ab und Sitzreihen rein.
Aber das war nicht die einzige Schwierigkeit: Alle in russischer Sprache gesungenen Opern mussten mit dem Stammensemble des Belgrader Opernhauses besetzt werden. In Belgrad hatte man aber nur Onegin und Boris im Repertoire, und diese nur in serbokroatisch. Also hieß es für alle lernen, lernen und noch einmal lernen. 16 Sängerinnnen und Sänger mussten über 50 mittlere und große Partien übernehmen. Dušan Popovic, ein junger Kavaliersbariton von Gnaden wirkte in sechs Aufnahmen mit, in Onegin und Fürst Igor übernahm der 27-jährige die Titelpartie. Eine echte Entdeckung ist die Bayreuth-geeichte Mela Bugarinovic, damals erster Mezzo in Belgrad. An der Wiener Staatsoper hat sie insgesamt 161 Auftritte absolviert in Rollen wie Amneris, Carmen, Eboli, Azucena, oder Klytämnestra. Im Aufnahmeprojekt der Decca ist sie unter anderen als Marfa und Marina zu hören. Eine üppige ruhig geführte Luxusstimme der Sonderklasse, die heute eine gewaschene Weltkarriere hinlegen würde. Aber auch der eher helle, in jeder Hinsicht kultivierte Bass des Miroslav Čangalović ist von einer grandiosen Stimmschönheit. In der Box ist er als Boris Godunov, Dosifej, Susanin und als Gremin zu hören. Melomanen werden sich aber auch an den exquisiten Leistungen der Sopranistin Valeria Heybal (Lisa, Tatjana, Jaroslavna), des technisch sicheren Tenors Drago Strac oder unserer Biserka Cvejic erfreuen. Sofija Jankovic gestaltet mit ihrem ausdrucksstarken lyrischen Sopran ein ungemein berührendes Porträt des Schneeflöckchens oder einen sensiblen Zarensohn Fjodor.
Als Dirigenten fungierten der Stilist und auch als Komponist bekannt gewordene Krešimir Baranovic und der temperamentvolle Oskar Danon. Beide sorgen für spannungsvolle Aufführungen wie aus einem Guss, das Niveau des in spätromantischer Üppigkeit schwelgenden Orchesters und des Chors sind durchwegs exzellent. Die Einzelleistungen vor allem der Holzbläser sind stupend. Immer wieder erfreut auch die Durchhörbarkeit und Balance im Orchester, aus meiner Sicht den CDs russischer Opern der manchmal pauschalen Leistungen des Kirov Theaters unter Gergiev künstlerisch überlegen. Für Ivan Sussanin und Pique Dame wurde der Chor der Jugoslawischen Volksarmee verpflichtet, wohl um den Chor der Belgrader Oper bei Einstudierung und in den Auftritten nicht über Gebühr zu beanspruchen. Was für runde volle Stimmen, kann da nur gestaunt werden.
Zu den Fassungen
Michail Ivanovich Glinka – Ivan Sussanin (“Ein Leben für den Zaren”): Version von Sergei Gorodetsky, Erstaufführung am 21.2.1939 am Bolshoi Theater; als Extra ist die Arie des Sobinin mit Chor (Nicolai Gedda, Chor der Belgrader Oper, Orchestre de l’Association des Concerts Lamoureux unter Igor Markevitch (Paris 1957) zu hören.
Modest Mussorgsky – Boris Godunow: Bearbeitung und Instrumentierung von Nicolai Rimsky-Korsakov, leider gibt es im Polen-Akt erhebliche Striche. Als Bonus und CD-Premiere ist die Szene vor der Basiliuskathedrale in Moskau instrumentiert von Michail Ippolitow-Iwanow mit Mark Reizen, Nikander Hanajen und Ivan Kozlowski aus dem Jahr 1955 mit dem Chor und Orchester des Staatlichen Akademischen Großen Theaters der Sowjetunion zu hören.
Modest Mussorgsky – Chowantshchina: Vervollständigt und instrumentiert von Nicolai Rimsky-Korsakov
Alexander Porfiryevich Borodin – Fürst Igor: erklingt in der Bearbeitung und Instrumentierung von Nicolai Rimsky-Korsakov und Alexander Glazunov
Gar nicht genug gelobt und bestaunt werden kann die Ensembleleistung. Das Zusammenwirken zwischen Dirigent, Orchester, Chor und “Bühne” ist von einem gemeinsamen Geist und hoher Musikalität durchseelt. Die Spannungsbögen werden straff gehalten, die Atmosphäre in den einzelnen Szenen ist unmittelbar intensiv, die Solisten sind durch die Aufnahmetechnik besonders gut bedient. Auch sprachlich-idiomatisch und von der Textverständlichkeit her lassen die Aufnahmen keine Wünsche offen. Alles in allem ist die Box neben ihrer musikhistorischen Bedeutung und kulturell-politischen Dimension eine Schatzkiste für Entdeckungen für Liebhaber weitgehend unbekannter schöner großer Stimmen.
Als zusätzliches Zuckerl enthält die Box eine Gesamtaufnahme von Jules Massenets Oper „Don Quichotte“. Die Aufnahme unter der musikalischen Leitung von Oscar Danon entstand 1965 im Nationaltheater Belgrad, sie wurde von den Stereo LPs (Label Everest) nicht immer ruckellos übertragen. In der Titelpartie glänzt abermals Miroslav Čangalović, seine Dulcinea ist Breda Kalef.
Anmerkung: Bei den nun im Verlag Profil/Hänßler im Mono erschienenen Gesamtaufnahmen aus 1955 handelt es sich, bis auf den „Boris“, um die ersten Decca- Studioaufnahmen russischer Haupt- und Schlüsselwerke in Originalsprache. Die Tonqualität ist in Relation zur Zeit der Aufnahme sensationell. Allerdings ist der Kinosaal offenbar für die Klangmassen zu klein gewesen, was sich akustisch manchmal in einem “Kämmercheneffekt bemerkbar macht. Wer die Stereo-Fassungen hören will, wird bei Eloquence Classics Australien fündig werden, muss dafür aber insgesamt ca. das Fünffache berappen. Bei Eloquente ist dazu noch die Doppel-CD “Springtime in Yugoslavia” mit Krešimir Baranović, Živojin Zdravković, Fran Lhotka; François Huybrechts erschienen. Die Aufnahmen mit Werken von Janáček, Fran Lhotka und Krešimir Baranović entstanden 1955 in Belgrad und 1970 in der Kingsway Hall London.
Glinka: Ivan Sussanin 3 CD
Borodin: Fürst Igor 3 CD
Mussorgsky: Boris Godunov 2 CD
Mussorgsky: Chovantshchina 3 CD
Tschaikovsky: Eugen Onegin 2 CD
Tschaikovsky, Pique Dame 3 CD
Rimsky-Korsakov: Schneeflöckchen 3 CD
Massenet: Don Quichotte 2 CD
Fazit: Opernglück pur, Empfehlung!
Dr. Ingobert Waltenberger