Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD MOZART & WIDMANN: KLARINETTENQUINTETTE – Hagen Quartett, Jörg Widmann; myrios classics

19.04.2023 | cd

CD MOZART & WIDMANN: KLARINETTENQUINTETTE – Hagen Quartett, Jörg Widmann; myrios classics

widmann

„Ich muss also diese harmonischen Einbrüche und die seltsamen Harmonien genau kennen, ohne ständig ein Ritardando zu machen, wenn so etwas kommt. Ich muss jeden Takt kennen, um dann in dem Moment kindlich zu staunen über den Klang einer bestimmten Stelle.“ Widmann

Wolfgang Amadeus Mozarts Begegnung mit dem Klarinettisten der Wiener Kaiserlichen Hofburgkapelle Anton Stadler verdanken wir vollendete Werke für Klarinette in kammermusikalischer Kombination als auch das Klarinettenkonzert in A-Dur, KV 622. Mozart lernte Stadler 1784 in einer Freimaurerloge kennen, ihr freundschaftliches Miteinander wurde legendär.

Im September 1789 für die Bassklarinette (in der Tiefe geht es bis zum C) konzipiert und in weniger als drei Tagen fertig gestellt, steht das Quintett in A-Dur wie das Klarinettenkonzert in der Tonart der Freimaurer.

Die federleichte, ganz klassisch ausbalancierte Struktur der Musik lässt zuerst an ein pures Divertimento oder eine innige Freundschaftshuldigung denken. Mit seinen kleinen, behutsam darunter gehobenen Mollzonen und subtil eingesetzten Dissonanzen kann beim Klarinettenquintett aber auch an die nach innen gekehrte Abgeklärtheit der Streichquintette KV 516 oder 593 oder aber schon an Schuberts ‚himmlische Längen‘ gedacht werden.

Dialektik bestimmt den Gang der Welt und diese so eigentümlich einfach-unschuldigen wie irgendwie unheimlich von letzten Dingen kündenden Klänge. Singen so Wesen, die der Erden Mühsal weit hinter sich gelassen haben? Und wenn ja, wovon? Schoenberg bewunderte auf jeden Fall die „Zusammenfassung heterogener Charaktere in eine thematische Einheit, die Ungleichheit der Phrasenlänge und die Kunst der Nebengedankenformung”, während Beethoven dem Werk Akademismus nachsagte.

Die Klarinette kann ihr softes lyrisches Cantabile vorführen, bukolisch gestimmte Bögen spannen oder brillant dahin räsonieren. Sie stimmt ihr Schäferlied an und duettiert mit der Geige. Simpel und experimentell zugleich, so tritt uns dieses rätselhafte Werk entgegen.

Das Hagen Quartett nimmt zu speziellen Mischungseffekten die Klarinette bei Mozarts Klarinettenquintett in ihre Mitte. Und so habe ich sie auch am 29. Januar 2018 im Berliner Pierre-Boulez-Saal live erlebt, ebenfalls mit Widmanns Klarinettenquintett als zweites Stück im Gepäck. Unaufgeregt in harmonischem Miteinander, vor allem in den Streichern in flirrendes Changieren gehüllt, lösen sich ab und an die Spompanadeln der Klarinette. Ein zarter Wink aus einer anderen Welt.

Widmanns Klarinettenquintett als kolossales vierzig minütiges Adagio aus dem Jahr 2017 steht mir persönlich näher als Mozarts eigentümliches kammermusikalisches Versteckspiel um Sinn und Deutung. Ausgehend von einem Zitat des Brahms‘ Quintetts in h-Moll, Op. 115, lässt Widmann in guter zweiter Wiener-Schule Manier seiner Fantasie freien Lauf. Leitmotivische Assoziationsketten herb-romantisch verklärt, mitunter wienerisch walzerselig, werden unterbrochen von plötzlichem Scheppern oder schrillem Enten-Tröten der Klarinette. Dazu Widmann: „Rilke sagt es doch so schön, jage die letzte Süße in den schweren Wein. Da ist etwas überreif und muss platzen. Wenn eine Schönheit zu groß wird, muss vielleicht auch ein Schrei folgen. Also diese Ausbrüche sind die Ausnahme, die die Regel bestätigen, nämlich ein unablässiges Fließen.Vielleicht ist es auch die Skepsis des Autors vor sich selbst und diesem permanenten Fließen.“

Bei Widmann gehen das Hagen Quartett und der Komponist/Solist ausdrucksstärker und mutiger in Dynamik sowie schroff-kontrastreicher in den Klangeffekten ans Werk als bei ihrer rein introvertierten Mozart-Sicht. Das schöne zeitgenössische Werk erzählt viel von Trauer, aber auch vom Wissen um Liebe und hitzköpfiges Aufbegehren. Es spiegelt in seiner ebenfalls rätselhaften Vielfalt heutiges Sein und eine emotionale Selbstbefragung ohne Tabu. Die authentische Interpretation auf dem Album ist hinreißend ohne Abstriche gelungen. Aufgenommen wurde schon 2019 im Sendesaal Bremen.

Hinweis: Jörg Widmann hat Mozarts Klarinettenquintett erstmals 2013 mit dem Arcanto Quartett für harmonia mundi eingespielt.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken