Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD MOZART „EXSULTATE JUBILATE“ – KARINE DESHAYES, Les Paladins und JÉRÔME CORREAS präsentieren Arien, Kirchensonaten und die Symphonie Nr. 17 in G-Dur; apartemusic

05.11.2023 | cd

CD MOZART „EXSULTATE JUBILATE“ – KARINE DESHAYES, Les Paladins und JÉRÔME CORREAS präsentieren Arien, Kirchensonaten und die Symphonie Nr. 17 in G-Dur; apartemusic

5051083190473

 

Charnu(e) ist eines jener französischen Adjektive, für das in Wirklichkeit ein semantisch deckungsgleiches in der deutschen Sprache fehlt. „Fruchtfleischig“ könnte man sagen oder “saftig wie ein Pfirsich“, um sich anzunähern. Wenn Correas sagt, die Stimme der Karine Deshayes sei charnue, dann trifft er meinem Empfinden nach den Nagel auf den Kopf. Offiziell als Mezzosopran klassiert, sprengt Deshayes in diesem Stimmfach alle vorstellbaren Grenzen, weil sie ebenso wie die „Carmen“ die „Figaro-Gräfin“ draufhat, die Charlotte in Massenets „Werther“ ebenso wie die koloraturgespickten Soprantitelrollen von Rossinis „Semiramide“ und „Armida“.

Wir hören eine dramatische, feminin sinnliche Stimme mit velourgehülltem Kern, würzig wellendem Vibrato, saftig sämiger Mittellage, frei ausschwingender Tiefe und silbernen bis metallisch knisternden Höhen, breit-bruchlos sicher mit stupender Technik geführt. Ob Legato oder flotte Verzierungen, alles Können und Virtuosität stehen im Sinne einer höheren dramaturgischen Wahrheit. Deshayes hat in ihrer Bühnenlaufbahn schon jede Menge an Mozart-Rollen gesungen, aber ist bis zu diesem Solo-Projektalbum mit Mozart noch nie ins Plattenstudio gegangen. Ihr Wunsch: Einmal die für den Kastraten Venanzio Rauzzini geschriebene Mottete „Exsultate, jubilate“ komplett singen zu dürfen.

Begleitet vom französischen Dirigenten Jérôme Correas (der auch als Cembalist und Bassbariton von sich hören/reden machte) und dem von ihm 2001 gegründeten, einer historisch informierten Aufführungspraxis verschriebenen, nach einer Rameau-Oper benannten Orchester „Les Paladins“ gibt Karine Deshayes in einem profan geistlich gemischten Allerlei die Arie ‚Quel nocchier che in gran procella‘ aus Mozarts „La Betulia Liberata“, ‚Lungi le cure ingrate‘ aus „Davide Penitente“, KV 469, das ‚Agnus Dei‘ aus der Krönungsmesse und zum Abschluss des Albums „Exsultate, jubilate“ KV 165 sowie ‚Laudate Dominum‘ aus den „Vesperae solennes de confessore“ KV 339 zum Besten.

Instrumental verwoben sind diese Vokalpreziosen mit der frühen Symphonie Nr. 17 in G-Dur, KV 129 sowie vier vergleichsweise selten gespielten Kirchensonaten (KV 69, 274, 144, 67). Correas will mit diesem Programm einen Ausflug zu Mozarts Kunst während der letzten Tage des Barocks an der Weggabelung zur Klassik unternehmen. Daher hat er ausschließlich Musik aus dem Jahrzehnt 1770 bis 1780 gewählt. Ausgehend von dem noch sich an der neapolitanischen virtuosen Tradition eines Hasse orientierenden Wolfgang Amadeus in „Exsultate“, „La Betulia Liberata“ oder „Davide penitente“ bis zu den experimentellen Kirchensonaten reicht die Bandbreite des Programms. Mit letzteren hatte Mozart versucht, aus der (barocken) Tradition, die er ständig hinterfragte, auszubrechen. Nach Ansicht von Correas handelt es sich um „veritable Miniatursymphonien, aus deren Themenmaterial er sich später bedienen sollte“, handelt.

Correas interpretatorischer Ansatz entspringt dem Wunsch, den theatralischen Qualitäten der Werke des 18. Jahrhunderts in Analogie zur Malerei der Epoche nachzuspüren und gleichzeitig ein Ausdrucksniveau zu erreichen, das unsere heutigen Sensibilitäten anspricht. Eine „Querbefruchtung“ also aus Elementen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die auf einer generösen, dynamisch kontrastreichen Klangvorstellung, tänzerisch geschmeidigen Rhythmen, übertragen in ein heute (selbst)verständliches Pulsieren mündet.

All dem ist auf diesem neuen geistlich-säkular gemixten Album in großartiger Weise nachzuspüren. Einmal nicht von einem lyrischen leichten Sopran gesungen, offenbart „Exsultate jubilate“ von einer expressiv, genuin dramatischen Stimme à la Edda Moser gesungen, hier ganz andere Dimensionen an flashy Emotionen. Mit der Betonung der mittleren Tessitura eines Sopran II, für einen solchen auch die Arie ‚Lungi le cure ingrate‘ geschrieben ist, liegt dieser Ansatz noch dazu näher an der ursprünglichen Tessitura eines Kastraten.  

Der ganz große Hit des Albums ist die Arie ‚Quel nocchier che in gran procella‘ aus „La Betulia Liberata“, die alles hat, um kultig zu werden. Bislang kenne ich gerade einmal die RAI-Aufnahme dieser Azione sacra in due parti (nach einem Libretto des unvermeidlichen Metastasio) aus dem Jahr 1954 mit Schwarzkopf (Amital), Pirazzini, Valletti, und Boris Christof, obwohl es schon zwei klangtechnisch heutigen Standards entsprechende Gesamtaufnahmen von Michi Gaigg und Christophe Rousset gibt. Wie auch immer, mir gefällt die Interpretation der Arie der Amital von Deshayes/Correas in ihrer packenden Dramatik und leuchtenden Farbigkeit außerordentlich gut, zumal sie in ihrem jugendlichen Furor zudem direkt zu Herzen geht. Anm.: Correas hat alle Kadenzen der aufgenommenen Arien genau passgenau den Möglichkeiten des Soprans der Deshayes in Bezug auf Nuancierung und Tonumfang angepasst, woraus eine taufrische Spontanität und Intensität sowie eine ungewöhnliche emotionale Dichte folgert.

In den Instrumentalstücken geht Correas dem Ansatz des Konzertierens nach, insbesondere auf die dynamische Beziehung der Streicher mit den Blasinstrumenten achtend. Auch hier kann Correas mit dem ihm pfadgenau folgenden Orchester Augenblicke großer atmosphärisch individuell-abgemischter Klangbildlichkeit generieren, die sich auch in Anbetracht der enormen Bandbreite an vorliegenden Mozart Einspielungen Gehör und offenes Interesse zu verschaffen vermögen.

Ich höre das Album nun schon zum sechsten Mal, es überzeugt mich bei jedem Reset mehr. Subtil gemodeltes Hörvergnügen in gestisch ausdrucksvollem Theatermodus. Jede Versuchung wert!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken