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CD „MOZART À L’OPÉRA“ – PHILIPPE CASSARD und das ORCHESTRE NATIONAL DE BRETAGNE; la dolce volta

03.10.2022 | cd

CD „MOZART À L’OPÉRA“ – PHILIPPE CASSARD und das ORCHESTRE NATIONAL DE BRETAGNE; la dolce volta

Mozarts Instrumentalmusik als unerschöpfliches Forschungslabor für die Oper

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„Von den großen musikalischen Formen sind es zwei, in welchen über das Musikalische hinaus das Ganze des Menschentums angepackt und formuliert, in welchen seine Größe gepriesen, seine Gebrechlichkeit betrauert, seine Abhängigkeit von höheren Mächten bekundet wird: das Oratorium und die Oper. Mozarts Opern sind für mich der Inbegriff von Theater, so wie man als Kind, noch eh man es gesehen hat, sich ein Theater vorstellt: wie der Himmel…“ Hesse

Der französische Pianist Philippe Cassard hat sich ein interessantes wie auch kluges Programm ausgedacht: Um die Zeit der Entstehung der Oper „Le nozze di Figaro“ (Uraufführung 1. Mai 1786) erblüht das Werk des W.A. Mozart besonders vielfältig. Zu seinen Schöpfungen zählen neben dem auf der CD eingespielten Klavierkonzert KV 482 u.a. die Klavierkonzerte in A-Dur KV 488 und in c-Moll KV 491, eine freimaurerische Kantate, ein Hornkonzert, das Quartett für Klavier und Streicher in Es-Dur, ein Adagio für zwei Bassetthörner und Fagott, ein Trio für Klavier, Violine und Cello, Variationen in G-Dur und eine Sonate für Klavier zu vier Händen, das „Hoffmeisterquartett“ KV 499 sowie ein Trio für Klavier, Klarinette und Viola.

Daraus leitet Cassard ab, dass Mozart die Charakterisierungskraft und das Atmosphärische etwa der Hörner, der Klarinette, Flöten und Oboen für die Da Ponte-Opern, aber auch die „Zauberflöte“ spielerisch erkundete, um sie später bestimmten Opernfiguren punktgenau zuordnen zu können. Zum Klavierkonzert KV 482 flicht Cassard zudem den Gedanken, Mozart wollte damit das Gedächtnis des Hörers schulen: „In den Opern spann er die gleichen Wendungen, Motive, rhythmischen und melodischen Zellen weiter und passte sie den Figuren, der Handlung und den Situationen an.“

Cassard beginnt die CD mit einer hoch differenzierten und sehr emotionalen Interpretation der Fantasie KV 475. Von allen Improvisationen, die Mozart im Rahmen seiner Subskriptionsabende neben den obligaten Klavierkonzerten absolvierte, ist es die einzige, die es hin bis zum Notendruck geschafft hat. Die Fantasie war ursprünglich in c-Moll notiert, später ließ der Komponist alle Vorzeichen weg, um die Modulationen frei fließen zu lassen. Ob Mozart hier „die Töne des Geisterreichs zum Leben erweckt“ oder „freyen Ausbrüchen der musicalischen Dichterwut“ gehuldigt hat? Na ja dazwischen geht es ja durchaus auch idyllisch zu. Cassard hat jedenfalls seine ganz persönliche Sicht auf das Stück, die auch seine quicklebendige und mit Bühnenluft durchsetzte Lesart verstehen lässt: „Der Vorhang hebt sich in der Dunkelheit, ein ernster weihevoller Charakter kommt von allen Streichern zum Ausdruck, dann folgt eine Aufreihung frappierender Modulationen, die jene der tiefen Töne der Sonate für Klavier zu vier Händen KV 497 ankündigt. Daraufhin setzt sich der gesamte Opernmechanismus in Bewegung, zwar in Miniatur, aber absolut offensichtlich: Arie für Mezzosopran, Intermezzo secco, des Orchesters, Arie für Sopran, Kadenz mit Vokalise, Duo für Sopran und Mezzosopran, Orchestertutti währen des Szenewechsels bei gehobenem Vorhang, Rezitativ mit Orchester, Rückkehr zu den Motiven der Eröffnung. ein bisschen wie ‚Don Giovanni‘, wenn die Statue des Komturs das Ouvertürenthema singt.“

Für die Aufnahme der Sonate in F-Dur für Klavier zu vier Händen KV 497 hat sich Cassard den schweizerisch-französischen Pianisten Cédric Pescia zum kongenialen Partner erkoren. Cassard hält die Sonate wegen ihres Motivreichtums und ihrer Gedankentiefe für eines der 20 oder 30 unbestreitbaren Meisterwerke Mozarts: „Im Andante unterbrechen Opera-buffa Intermezzi die Sopran- und Mezzosopran Duos, die jenen in Figaros Hochzeit ähneln und Fiordiligi und Dorabella andeuten. Und welch Sinn für Beleuchtung, als am Ende die Rampenlichter eins nach dem anderen erlöschen…Das gesamte Orchester entfaltet sich auf dem Klavier mit Streichern, Bläsern, Pauken, Trompeten und Hörnern auf der Lauer. Das Finale mit unschuldigen trügerischen Enden, verzögerten Codas, vermiedenen Kadenzen und harmonischen Kühnheiten ist ein schallendes Gelächter das uns Mozart als Feuerwerkskünstler vor Augen führt.“

Das Schöne und Besondere an dem Album ist nicht nur der plausible Hinweis auf Motiv, Zeit- und Querbezug der Entstehung verschiedener Werke aus der Feder des W.A. Mozart, sondern auch die Auswirkungen auf die Interpretation, die in ihrer theatralischen Anlage manche Hörgewohnheiten über den Haufen wirft. So wählt Cassard im Andante des Klavierkonzerts ein rascheres Tempo als andere Kollegen, weil es sich „um kein romantisches Beethovensches Adagio handelt oder irgendeinen Trauermarsch.“ Mozarts hat sein Andante mit Variationen im Dreiachteltakt geschrieben, es ist „Theater voller Schwung und Aktion.“

Leider mischt sich in die Freude über dieses außergewöhnlich gedachte und gespielte Album auch ein Moment der Trauer. Warum der Pianist die vor knapp 10 Jahren sich aus guten Gründen von der Bühne verabschiedet habende Sopranistin Natalie Dessay Mozarts Konzertarie „Ch’io mi scordi di te KV 505, singen ließ und die Sängerin dann die missratene Aufnahme noch freigegeben hat, ist mir ein Rätsel. Der einst glänzende Koloratursopran klingt stumpf und fahl, ein übermäßiges Vibrato vernebelt das früher so markante Timbre. Man hat dieser außergewöhnlichen Künstlerin, einst mit einer Jahrhundertstimme gesegnet, und ihren Bewunderern (zu denen auch ich mich zähle) mit diesem Auftritt keinen Gefallen getan.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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