CD „MORE THAN A MYTH“ – Kammermusik-Weltersteinspielungen und Lieder zum 100. Todestag von Engelbert Humperdinck; hänssler classics
Veröffentlichung: 27.8.2021
„Für alle, die Wagner in kleineren Dosierungen schätzen, aber die Überlänge seiner Musikdramen schwierig zu meistern finden, ist Humperdinck die ideale Lösung.“, sagte sinngemäß einmal Dirigent James Conlon. Da liegt er gar nicht so falsch. Auch von den auf der neuen CD zu hörenden Jugendwerken ist die erstaunlichste Entdeckung wohl Humperdincks Arrangement von Richard Wagners Vorspiel zum ersten Akt von „Tristan und Isolde“ für Kammerensemble, dem der Komponist noch einen eigenen, 24 Takte langen Schluss draufsetzte.
Der junge Humperdinck drängte sich Richard Wagner in Neapel als „Mitglied des Ordens vom Gral“ auf. Der Mut lohnte sich. Als Assistent in Bayreuth 1881/82 war er maßgeblich an den Vorbereitungen zur Uraufführung des Parsifal beteiligt. Schließlich fand Humperdinck aber seinen eigenen Weg und Stil, Wagners Chromatik und Leitmotivtechnik auf volkstümlichere Weise nutzend. Mit „Hänsel und Gretel“ und den „Königskindern“ schuf er zwei der schönsten und im Falle der Märchenoper „Hänsel und Gretel“ zudem eine der am häufigsten aufgeführten hochromantischen Opern überhaupt.
Engelbert Humperdinck studierte am Konservatorium in Köln. Im Frühjahr 1872 lernte er den Siegburger Friedenrichter Johannes Degen kennen. Selbiger war nicht nur praktizierender Jurist, sondern auch ein hervorragender Geiger und Sänger. Die Kombination soll es ja öfter geben. Degen organisierte, um seiner Leidenschaft zu frönen, nicht nur regelmäßige Konzerte, sondern gründete auch ein eigenes Streichquartett. Fehlte nur noch ein Pianist. Den fand Degen im jungen Humperdinck und hatte auf einmal in einem Aufwaschen noch einen hochbegabten Komponisten mit im Boot.
Es war eine klassische „win-win“-Situation, wie man auf neudeutsch heute so sagt. Humperdinck bekam durch die Aufnahme in diesen inneren Zirkel die Gelegenheit, regelmäßig aufzutreten, und schrieb aus Dank für „Degen and friends“, was immer sie von ihm verlangten.
Dennoch blieb Humperdincks Vermächtnis an kammermusikalischen Werken relativ bescheiden. 13 sind belegt, darunter ein frühes Klavierquintett aus 1875 und das späte, 1920 geschriebenes Streichquartett. Und jetzt treten unsere Musiker des neuen Albums auf den Plan. Der Geiger Thomas Probst hat quasi in den Fußstapfen und auf den Spuren von Johannes Degen in Handschriften nachgeforscht und ist fündig geworden. Sei es nun mit einem Menuett in Es-Dur für Klavierquintett, einem Notturno für Violine und Streichquartett in G-Dur, einem Quartettsatz in e-Moll, einem „Albumblatt for Violine und Klavier“ oder einer zweisätzigen Sonate für Violine und Klavier.
Genauso prominent kommt auf der neuen CD der Melodiker Humperdinck zu Wort und Ton. Bassbariton Nikolay Borchev interpretiert das „Altdeutsche Minnelied“, „An die Nachtigall“, „Das Lied vom Glück“, „Die Wasserrose“, „Die wunderschöne Zeit“, „In einem kühlen Grunde“ oder den Ohrwurm „Wiegenlied“, begleitet am Flügel von Elenora Pertz. Leider fehlen dem bemühten Sänger die für den Liedgesang so wichtige stete Tongebung, der freie flow einer ruhig geführten Stimme. Das teils überbordende Vibrato und Defizite beim Legato legen nicht gerade eine Empfehlung nahe. Zumal es sich nicht um genuine CD-Premieren handelt, von der Fassung einiger Lieder einmal abgesehen. Andreas Schmidt und Susan Anthony haben beispielsweise schon im Jahr 2000 bei EDA mit Adrian Baianu am Klavier eine beeindruckende Einspielung von 28 Klavierliedern vorgelegt und führten damals vor, wie es besser geht.
Thomas Probst wird bei seinem löblichen Unterfangen, das uns den Opernmeister einmal von einer anderen Seite nahe legt, von Ursula Fingerle-Pfeffer (Violine), Susanne Unger (Violine), Daniel Schwartz (Viola), Clara Berger (Cello), Jörg Ulrich Krah (Cello) sowie Karsten Lauke (Kontrabass) unterstützt. Die Instrumentalisten spielen mit bewunderungswürdiger Transparenz und charaktervollem Eigenton. Die inneren Verwandlungen der Musik, ihre Übergänge und die auch kompositorisch schon den Meister ankündigenden harmonischen Drehungen und Wendungen werden lustvoll und klangschön zelebriert. Schade, dass die dazwischen gestreuten Lieder das Hörvergnügen trüben.
Dr. Ingobert Waltenberger