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CD MIECZYSLAW WEINBERG KAMMERSYMPHONIEN Nr. 2 und 4, EAST-WEST CHAMBER ORCHESTRA dirigiert von ROSTISLAV KRIMER; NAXOS

19.10.2021 | cd

CD MIECZYSLAW WEINBERG KAMMERSYMPHONIEN Nr. 2 und 4, EAST-WEST CHAMBER ORCHESTRA dirigiert von ROSTISLAV KRIMER; NAXOS

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Jede Veröffentlichung von Musik des polnisch-sowjetischen Komponisten Weinberg ist wertvoll und wichtig. Einerseits weil seine Werke kompositorisch Shostakovich durchaus ebenbürtig sind, aber noch lange nicht in den Mainstream des gängigen Konzertrepertoires gefunden haben. Andererseits weil er als Künstler zwischen Zeiten und Umbrüchen, Kriegen und Ideologien die letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts fast völlig in Vergessenheit geriet. Sicher es gibt sie, die Künstler, die sich vehement für die Aufführung und Verbreitung seiner Stücke engagieren, wie Gidon Kremer oder Elisaveta Blumina. Aber es darf da noch ruhig mehr kommen, auch wenn die Diskographie mittlerweile einen beachtlichen Umfang und Diversitätsgrad aufweist.

Besondere erfreulich ist, dass nun mit der Veröffentlichung der zweiten CD von Weinbergs Kammersymphonien (Nr. 2 und 4) eine hochkarätige Gesamteinspielung aller vier Kammersymphonien mit dem East-West Chamber Orchestra unter der Leitung des Rostislav Krimer und damit eine schöne Alternativaufnahme zum Album mit Yulianna Avdeeva, der Kremerata Baltica, geleitet von Gidon Kremer (erschienen bei ECM), vorliegt. Kremer hat zu den im letzten Lebensjahrzehnt des Komponisten entstandenen Kammersymphonien angemerkt, dass sie höchst persönliche Reflexionen über das Leben und das von Weinbergs Generation, ähnlich einem Tagebuch der dramatischsten Periode des 20. Jahrhunderts, darstellen.

Das Leben von Mieczyslaw Weinberg stellt sich tatsächlich wie eine wüste Odyssee dar, deren Ursachen der politischen Wirklichkeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschuldet sind. Eigentlich war der junge hochbegabte polnische Pianist schon auf dem Sprung zur Komplettierung seiner Ausbildung in die Vereinigten Staaten von Amerika, als die deutsche Aggression nach Osten samt Rassenwahn der Nazis den Musiker überstürzt zur Flucht nach Minsk zwangen. Da blieb er von 1939 bis 1941 und studierte bei Vasiliy Zolotaryov, bis er weiter nach Taschkent floh, wo Shostakovich auf ihn aufmerksam wurde und Weinberg schließlich nach Moskau mitnahm. Da blieb er bis zu seinem Tod im Jahr 1996. Aber auch in der Sowjetunion gab es Antisemitismus und so wanderte Weinberg wegen behaupteter jüdischer Staatsgefährdung ins Gefängnis, aus dem ihn schließlich der Tod Stalins 1953 befreite. Weinberg hinterließ ein üppiges Oeuvre: 26 Symphonien, 17 Streichquartette, sieben Opern, 25 Liederzyklen und ein umfangreiches Instrumental- und Kammermusikschaffen.

Die neue Aufnahme zeichnet sich klanglich durch ein aus vielen Nationen stammenden Musikern zusammengesetztes Orchester aus. Das 2015 als Orchester in Residence für das Yuri Bashmet International Music Festival gegründete East-West Orchestra vereint Solisten, Konzertmeister und andere Orchestermusiker u.a. aus Frankreich, Deutschland, Estland, Japan, Georgien, Italien, Israel, der Tschechischen Republik, Polen, Russland, Litauern, der Ukraine und Weißrussland. Gerade in Zeiten wie diesen kann eine solche transnationale Initiative wohl nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Die zweite Kammersymphonie Op. 147 aus dem Jahr 1986 – der Komponist überlegte ursprünglich, sie als Symphonie Nr. 21 zu bezeichnen – ist eine Bearbeitung des dritten Streichquartetts Op. 14 aus dem Jahr 1944, das bis dahin nie öffentlich aufgeführt wurde. Weinberg stellte die Sätze um, ergänzte um einen völlig neuen 2. Satz und wies den Pauken eine wichtige Aufgabe zu. Der düstere Grundton der Musik spiegelt sowohl die nachlassende Gesundheit des Tonsetzers als auch den chaotischen Zerfall der Sowjetunion wieder.

Die vierte Kammersymphonie Op. 153 entstand zwischen dem 30. April und 12. Mai 1992, sie sollte Weinbergs letztes vollendetes Werk sein. Eine obligate Klarinette (fantastisch expressiv Igor Fedorov) tritt konzertierend zu der trotz Satzeinteilung durchkomponierten „unendlichen Melodie“ und weckt alte Klezmertraditionen. Im Gegensatz zu den ersten drei Kammersymphonien basiert die Vierte nicht auf einem vorhandenen Streichquartett, wiewohl einige Zitate aus früheren Kompositionen zu finden sind. 

Weinberg führte die russisch-sowjetische Avantgarde in der Musik bis über das Ende des kommunistischen Staates im Dezember 1991 hinaus. Seine Tonsprache beherrscht alle Formen vom strengen Kontrapunkt bis zu flächigen, bildsprachlich anmutenden Stimmungsbildern. Insgesamt höre ich weniger ironisierende Elemente als bei Shostakovich und noch weniger die martialisch-maschinelle Gestik eines Prokofiev heraus. Weinberg setzt als Stilmittel konstant gehaltene Geigenstimmen in hohen Lagen mit in der Tiefe unruhig grummelndem Holz bzw. clusterartig komplex verwobene Harmonien ein. Licht und Finsternis, wehmütige Reminiszenzen, die Suche nach tröstendem Wohlklang in einer disparaten, die Seele in labyrinthische Abgründe tauchenden Welt.

Das East-West Chamber Orchestra nimmt sich dieser endzeitlichen Preziosen mit dunkel fundiertem Streicherklang auf das Intensivste an. Rostislav Krimer modelliert aus der Partitur Klanglandschaften, die zur schmerzhaften wie heilenden Erinnerung an einen versunkenen Kosmos einladen und dennoch jede politische Wirklichkeit sich anverwandelnd überwinden.  

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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