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CD MIECZYSLAW WEINBERG „DIE PASSAGIERIN“ – Grazer Oper 2021; Capriccio

17.11.2021 | cd

CD MIECZYSLAW WEINBERG „DIE PASSAGIERIN“ – Grazer Oper 2021; Capriccio

Veröffentlichung: 25.11.2021

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Weinberg, dank Musikern wie Gidon Kremer schon längst kein Geheimtipp mehr, reüssierte nicht nur als Komponist von Kammer- und Instrumentalmusik, sondern er schrieb auch sechs Opern. Die bekannteste darunter dürfte „Die Passagierin“ nach einem Libretto von Alexander Medwedew sein. Dem wiederum diente der Roman „Pasażerka“ von Zofia Posmysz als literarische Vorlage.

Das erst 2010 in Bregenz mit den Wiener Symphonikern unter Teodor Currentzis szenisch realisierte Stück dreht sich um die traumatische Begegnung zweier Frauen samt männlichem Anhang auf einem luxuriösen Ozeandampfer nach Brasilien. Die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa, mit ihrem Diplomatengatten unterwegs zum Dienstantritt, trifft auf die Polin Marta, die ihr im Lager unterstand. In zwei Akten, acht Bildern und einem Epilog werden die Schiffsreise (1959) und als maximaler Kontrast Rückblenden in die unsägliche KZ Wirklichkeit (1943) –  die Szenen teilen sich auf das Schiff, Auschwitz und in der Schlussszene auf den Heimatfluss Martas auf – zu einem erschütternden und ausweglosen Seelendrama verwoben. Dass Lisa und ihr Ehemann Walter sowie Marta und ihr Verlobter Tadeusz mit dieser Vergangenheit nicht klarkommen können, versteht sich.

Lisa redet sich ein, mit dem üblichen „Ich habe nur meine Pflicht getan“ keine Verbrecherin gewesen, aber beklagt, dennoch von allen abgrundtief gehasst worden zu sein. Sie ermöglicht zwar Marta und ihrem Tadeusz, von dem sie im Lager seit zwei Jahren getrennt war, ein Rendezvous, meldet die 20-jährige Inhaftierte aber genau dafür später der Lagerleitung. Und kommt dafür in den Todesblock, den sie wie durch ein Wunder überlebte. 

Walter fürchtet nach der Aufdeckung des dunklen Geheimnisses seiner Frau primär um seine Karriere, hat aber auch jede Menge an Ausreden parat, sich mit der Situation nicht weiter auseinandersetzen zu müssen: Es war halt Krieg und der sei schon lange zu Ende. Zeit für Vergessen.

Marta versucht im KZ, in Anbetracht der Dauerpräsenz des Todes irgendwie durchzukommen und auch anderen Frauen dabei behilflich zu sein. Später trauert sie um das endgültige Verschwinden aller Getöteten, wenn alle Stimmen schweigen. Die letzte Reminiszenz im Epilog: Marta und die anderen Mitinsaßinnen schworen, ihren Peinigern niemals zu verzeihen.

Tadeusz, ebenfalls im Krieg in Auschwitz inhaftiert, soll dem KZ-Kommandanten dessen Lieblingswalzer auf einer wertvollen Geige vorspielen: „Er soll spielen, bevor er sich in Luft auflöst. So ist er doch noch zu etwas nütze.“ Er weigert sich und spielt stattdessen die Chaconne von Johann Sebastian Bach aus der Partita in d-Moll. Dirigent Dirigent Roland Kluttig sieht darin die Rettung der Musik durch Weinberg bzw. Tadeusz „vor ihrem tausendfachen Missbrauch an Orten wie Auschwitz“. Achtes Bild: Auf dem Schiff beim abendlichen Ball hat Marta einen Musikwunsch. Die Kapelle spielt den Lieblingswalzer des KZ-Kommandanten.

Die Oper erzählt uns auf einer Metaebene abseits der Gegenüberstellung von Tätern und Opfern, Schuld und Verantwortung auch davon, wie schwankend und um Millimeterbreite absturzgefährdet Bein und Kopf entlang der Gratwanderung von Politischem und Privatem, von Erlebtem und ihren Nachwirkungen, Wohlwollen und dem Kippen ins Gegenteil auf dem Seil des Schicksals tanzen. Und natürlich von der Musik selbst, die in einem Lager wie Auschwitz in ihrer Funktion pervertiert wurde, aber auch in aller Heimlichkeit oder im Lagerorchester als Rettungsanker fürs Überleben diente.

Weinberg gelang eine Partitur, in der die musikalische Sprache ebenso differenziert scheint wie die Seelenlage der Protagonisten. Er verwendet Techniken der Zwölftonmusik, aber auch einfache volkstümliche Rhythmen und Melodien. Die Texte werden in polnischer, deutscher, englischer und hebräischer Sprache gesungen bzw. melodramatisch über Orchesterstimmen deklamiert. Lady Macbeth von Mzensk, Wozzeck, die Opern oder Britten werden richtigerweise häufig als stilistische Stichwortgeber zitiert, ich würde noch Stravinsky hinzufügen. In ihrer atmosphärischen Plastizität erinnert der Orchesterpart bisweilen an Filmmusik. 

Die Besetzung, angeführt von der fabelhaften Dshamilja Kaiser (hochdramatisch als Lisa) und der wunderbar samtig timbrierten Mezzosopranistin Nadja Stefanoff (Marta), weist auch eine Schwachstelle auf: Will Hartmann als Walter tremoliert unschön und beginnt im Forte zu flackern. Hingegen agieren Markus Butter (Tadeusz), Tetiana Miyus (Katja), Antonia Cosmina Stancu (Krystina), Anna Brull (Vlasta), Mareike Jankowski (Hannah), Sieglinde Feldhofer (Yvette), Ju Suk (Alte), Joanna Motulewicz (Bronka), Ivan Orescanin (1. SS-Mann), David McShane (2. SS-Mann), Martin Fournier (3. SS-Mann), Kontstantin Sfiris (Älterer Passagier), Uschi Plautz (Oberaufseherin), Maria Kirchmair (Kapo) und Adrián Berthely (Steward) stimmlich auf hohem Niveau. Die Textverständlichkeit ist durchwegs vorzüglich. Das Ensemble verleiht dem vielschichtigen Drama in aller Nabelschau der Protagonisten als auch den vielen kleinen Episoden scharfe Konturen. Das Ensemble führt uns echte Schicksale bzw. Kollektive (Chor) vor Ohren, deren Nähe zum Greifen ist, was eine herzzerreissende Rezeption und überaus bewegende Momente ermöglicht.

Der Chor der Oper Graz und die Grazer Philharmonikern unter der musikalischen Leitung von Roland Kluttig sind exzellente Mittler der Qualität der einzigartigen Partitur, die bei aller Tristesse am Ende einen Hymnus an unbändigen (Über-)Lebenswillen darstellt. 

Fazit: Eine der wichtigsten und kompositorisch meisterlichsten Opern des 20. Jahrhunderts.

Tipp: „Die Passagierin“ wird ihre nächste Premiere am 21. Mai 2022 am Tiroler Landestheater in Innsbruck erleben.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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