CD: Mendelssohn X Files Uxia Martinez Botana Fuga Libera, FUG847
Kontrabass übernimmt das Ruder – Mendelssohn im neuen Gewand
Es gibt Aufnahmen, die sind wie ein gepflegter Sonntagsbrunch mit Lachs und Orangensaft. Nett, aber nach zehn Minuten hat man vergessen, was auf dem Teller lag. Und dann gibt es Aufnahmen wie diese neue CD bei Fuga Libera: ein musikalisches Abenteuer, das mit einem unerwarteten Coup beginnt. Denn Uxía Martínez Botana, Kontrabassistin von Weltruf und erklärtermaßen nicht zimperlich mit Konventionen, hat beschlossen: Der Cello-Platz im Quartett wird kurzerhand gekapert. Und siehe da – Mendelssohn klingt, als hätte er plötzlich einen tieferen Pulsschlag bekommen.
Botana, die schon als blutjunge Solistin bei Kremerata Baltica für Aufsehen sorgte, macht keine halben Sachen. Gemeinsam mit Sergey Ostrovsky, Alexander Kagan und Noémie Bialobroda hat sie Mendelssohns Quartette in die Werkstatt geschickt – und herausgekommen ist kein Bastelprojekt, sondern ein kammermusikalischer Neuwagen mit Turbo.
Los geht es mit dem Adagio non troppo aus dem Es-Dur-Quartett op. 44 Nr. 3. Wer Mendelssohn bislang als ätherischen Romantiker kannte, erlebt hier einen Komponisten mit Bodenhaftung. Der Kontrabass legt ein Fundament, das eher nach Marmorsockel als nach Parkett klingt. Darüber erhebt sich die Solovioline mit so viel Gesanglichkeit, dass man sich fragt, ob nicht doch ein belcantistischer Opernstar im Nebenraum probt. Das Ganze atmet Wärme, ja fast eine orchestrale Fülle – man fühlt sich in einen Salon versetzt, der plötzlich zur Konzertbühne mutiert.
Dann die vier Stücke op. 81. Mendelssohn hat hier musikalische Miniaturen hinterlassen, die oft ein Schattendasein führen. In Botanas Besetzung allerdings wirken sie wie frisch polierte Kabinettstücke. Das Capriccio entfaltet eine innige Melodie, umspielt von den anderen Stimmen, die sich wie ein gut gelaunter Chor einmischen. Ein kleiner, eleganter Scherz mit Nachhall.
Die Fuge wiederum läuft nicht als steifer Kontrapunkt-Aufmarsch, sondern schleicht gemütlich dahin – wie ein Spaziergang, bei dem jeder Mitstreiter einmal das Wort ergreift. Hier wird das Ohr geschärft, und der Kontrabass setzt unüberhörbare Akzente. Wer Instrumente zählen liebt, kommt ins Schwärmen. Wer Klangfarben genießt, sowieso.
Und dann der große Brocken: das f-Moll-Quartett op. 80, Mendelssohns erschütterndes Requiem für seine Schwester Fanny. Schon der erste Satz: eine stürmische Attacke, mit ruppiger Artikulation und einem Pathos, das an Beethoven denken lässt – nur dass Beethoven nie auf die Idee gekommen wäre, den Kontrabass an die Quartettspitze zu holen. Man spürt Leidenschaften, die so ungezügelt sind, dass sie fast über den Notenrand hinausfliegen.
Der zweite Satz setzt die Hetzjagd fort, diesmal als wildes Streitgespräch. Es erinnert an politisches Theater – jedes Instrument ein Abgeordneter, der seine Meinung mit Nachdruck verkündet. Nur dass die musikalischen Argumente ungleich überzeugender sind als die im Bundestag.
Dann das Adagio: ein Moment des Innehaltens, ein musikalischer Atemzug nach all dem Aufruhr. Sehnsüchtig, tröstend, ein Frieden, der vielleicht nur für wenige Minuten hält – aber dafür umso kostbarer klingt. Hier wird der Kontrabass zur tragenden Stimme, nicht nur Fundament, sondern Erzähler.
Das Finale schließlich stürzt sich ins Getümmel, ein „Allegro molto“, das alle Kräfte bündelt. Ein Sturm, der noch einmal alles aufwühlt und atemlos zurücklässt. Wer da nicht am Rand des Sofas sitzt, hat vermutlich die Lautsprecher ausgeschaltet.
Besonders bemerkenswert: die Aufnahmequalität. Die Tontechniker von Fuga Libera haben offenkundig gewusst, dass ein Kontrabass kein Mauerblümchen ist. Statt dumpfer Kellerakustik hört man hier die Saiten mit seidiger Klarheit, die Obertöne funkeln, das Ensemble klingt plastisch und dynamisch. Mal meint man, in der ersten Reihe eines Saals zu sitzen, mal mitten im Ensemble – und immer hat man das Gefühl, Mendelssohn selbst hätte die Balance abgenickt.
Das Erstaunliche an diesem Projekt ist, dass es sich nicht wie eine nette Spielerei anhört, sondern wie eine logische Erweiterung des Repertoires. Der Kontrabass ist hier kein Clown, der kurz vorbeischaut und wieder verschwindet, sondern integraler Teil eines neuen Klangkonzepts. Mendelssohns Musik klingt dadurch nicht anders – sondern vollständiger.
Man könnte sagen: Der Komponist sitzt nicht länger auf einem schmalen Salonstuhl, sondern auf einem bequemen Ohrensessel, der Platz für alle Emotionen hat. Und der Hörer darf sich mit hineinsetzen.
Wer also glaubt, er kenne Mendelssohns Quartette schon in- und auswendig, wird hier überrascht. Uxía Martínez Botana und ihre Mitstreiter beweisen, dass Tradition und Erneuerung keine Gegensätze sind. Mit augenzwinkerndem Mut und ernsthafter Musikalität haben sie eine Aufnahme geschaffen, die gleichermaßen Herz wie Hirn anspricht.
Und ganz ehrlich: Hätte Mendelssohn selbst einen so klangvollen Kontrabass im Quartett gehabt – er hätte ihn vermutlich nicht wieder aus der Hand gegeben.
Dirk Schauß, im September 2025
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