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CD MENDELSSOHN-BARTHOLDY: SYMPHONIEN NR. 4 (zweite Version 1834) und NR. 5 (Originalfassung 1829), Les Ambassadeurs, La Grande Ecurie et la Chambre du Roy, Alexis Kossenko; Aparte

05.05.2023 | cd

CD MENDELSSOHN-BARTHOLDY: SYMPHONIEN NR. 4 (zweite Version 1834) und NR. 5 (Originalfassung 1829), Les Ambassadeurs, La Grande Ecurie et la Chambre du Roy, Alexis Kossenko; Aparte

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Bühne frei für ein ambitioniertes Mammutprojekt der Aufnahme aller Orchesterwerke Mendelssohns – Start mit den Symphonien in rar gespielten Fassungen

Alexis Kossenko, französischer Flötenvirtuose, Musikwissenschaftler und Dirigent, verdanken wir als Solist ein außerordentlich schönes Album mit Flötenkonzerten von Tartini, Vivaldi und Sammartini. So lernte ich zumindest seine musikalischen Qualitäten zu schätzen. Als Dirigent gründete er 2010 das auf alten Instrumenten spielende Barockmusik-Ensemble Les Ambassadeurs. Als er 2020 Musikdirektor der 1966 von Jean-Claude Malgoire gegründeten La Grande Écurie et La Chambre du Roy wurde, legte er die beiden Klangkörper zusammen.

Mit diesem traditionsreichen wie frischen Orchester plant Kossenko als Langzeitprojekt die Aufnahme aller Orchesterwerke Felix Mendelssohn-Bartholdys. Warum er das tut? Er liebt seine Musik „maßlos“ (verstehe ich sehr gut), die sich von anderer frühromantischer Musik doch erheblich unterscheidet. Der Grundduktus seiner Musik ist im Vergleich zum Schaffen etwa eines Schubert oder Schumann weitaus weniger schwermütig und schon gar nicht todessehnsüchtig. Vielmehr ist Mendelssohns Klangkosmos von leichterem Pinselstrich, naturlichter Duftigkeit, kontrapunktischem Übermut und einem melodischen Reichtum sondergleichen durchwebt.

Den Grund dafür, warum Teile der Musikwissenschaft lange Zeit das Schaffen Mendelssohns vielleicht geringer werteten als dasjenige anderer Architekten des Deutschen Romantik, sieht Kossenko einerseits darin, dass Mendelssohn privilegiert aufwuchs und ihm daher der Nimbus des an allen Ecken leidenden mittellosen Bohemiens abgeht und andererseits in der jüdischen Herkunft des Musikers. Nun, über solch unsinnige Urteile sind wir ja hoffentlich hinweg. Was bei Musik ausschließlich zählt, ist ein unverwechselbares Inventionsvermögen, eine geschärfte Inspiration, technisch-handwerkliche Meisterschaft (Kontrapunkt!) und jenes namenlose magische Fluidum, das uns beim Hören von Klängen in andere Welten katapultiert.

Über all das verfügte Mendelssohn im Übermaß, obwohl Zweifel an seiner eigenen Arbeit und die Einflüsterungen seiner Schwester Fanny ihn dazu veranlassten, seine Werke häufig zu überarbeiten. So kommt es, dass die Symphonien Nr. 4, die „Italienische“ (in der Fassung von 1834) und Nr. 5, die „Reformations-Symphonie“, entstehungschronologisch eigentlich die 3. und die 2. Symphonie sind. Das hängt natürlich damit zusammen, dass sich die Nummerierung nach dem Zeitpunkt der Publikation und nicht nach demjenigen der Entstehung richtet. In diesem Fall wurden die Werke erst posthum veröffentlicht. Die Reformationssymphonie des 20-jährigen Tonsetzers ist überhaupt die erste seiner „großen Symphonien„ für volles Orchester. Die „Vierte“ (chronologisch die „Dritte“) schrieb Felix 1831 bis 1833.

Besonders die „Reformationssymphonie“, die wegen der Zeitnot als Gelegenheitswerk gilt und oft schwerfällig romantisch-feierlich interpretiert wird, sei es wegen des Anstoßes der Zeremonien zum 300-jährigen Jubiläum der Augsburger Konfession am 30.6.1830 (Mendelssohn schaffte es bis dahin ohnedies nicht) oder der Assoziation mit der Idee eines Großdeutschlands, konnte Kossenko trotz der klar religiösen Konnotation in ungewohnter jugendlicher Frische und Vitalität neu für sich und uns entdecken. Nicht zuletzt trägt die historisch informierte Spielweise dazu bei, dass die Klangfarbpalette der Instrumente andere Misch-Kombinationen erlaubt als gewohnt.

Diese Symphonie war seine erste nach dem Tod Beethovens. Mendelssohn wollte verständlicherweise jeglichen Vergleich mit dem Schaffen des übermächtigen Titans vermeiden. Der drängte sich aber gerade durch die Einbeziehung des Chorals im letzten Satz „Ein feste Burg“ auf. Mendelssohn schnitt einen ganzen Satz heraus und revidierte, aber wollte das ungeliebte Kind, das auch in Paris von der Société des Concerts du Conservatoire abgelehnt wurde, nie veröffentlicht sehen. Auf der gegenständlichen Aufnahme erklingt die fünfte Symphonie in der selten gespielten ersten Version mit dem Flötenrezitativ nach dem kurzen Andante.

Die „Italienische“, die von der Royal Philharmonic Society in London in Auftrag gegeben wurde, wurde posthum in der Version des Manuskripts von 1833 veröffentlicht. Vom Komponisten wurde diese Fassung nie approbiert, zumal Mendelssohn 1834 umfangreiche Revisionen der letzten drei Sätze vorgenommen hatte. Dann gab er auf, die 1834-Revision blieb nach einem Dreiviertel der Strecke stecken. Die Änderungen, die Mendelssohn vornahm, betrafen u.a. eine Verlängerung des Finales um an die 40 Takte sowie eine Umarbeitung des thematischen Materials im Andante. Kossenko spricht davon, dass Mendelssohn 1834 der Symphonie in A-Dur etwas von der Leichtigkeit des Italienischen nahm und dafür dunklere, schottische Töne in die Textur der Musik mischte. Vor allem im Saltarello-Finale erhält die Tarantella – dieser extrem energische Tanz, von dem gesagt wurde, er heile Menschen von giftigen Tarantelbissen – „eine grausamere und beinahe dämonische Dimension“.

In seiner Interpretation legt Kossenko großen Wert auf Artikulation, Akzente und Phrasierung, grosso modo also auf die Kunst der Rhetorik in der Musik, i.e. die Organisation des musikalischen Diskurses. „Ich wollte mich auf die feine Diktion, insbesondere bei den Streichinstrumenten, und auf die Zeichensetzung konzentrieren.“ sagt Kossenko folgerichtig im Interview. Was die Instrumente anlangt, so wurden – wo möglich – solche deutscher Bauart um 1830 ästhetisch bevorzugt im Vergleich zu denjenigen, die etwa aus London stammen, aus der Zeit der Uraufführung. „Obwohl das damalige Londoner Orchester groß war, entschieden wir uns für eine leichtere, voluminösere Besetzung, die der des Leipziger Gewandhauses näher kam, was ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bläsern und Streichern ermöglichte.“

Das Ergebnis ist überzeugend, hören Sie selbst!

https://www.youtube.com/watch?v=aPnL8iJLD-s Link zu einem Interview in französischer Sprache mit Musik aus den Aufnahmen.

 https://www.youtube.com/watch?v=QNOP5LHj_fo Flötensolo

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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