CD MAX REGER: Klarinettenquintett Op. 146, Streichsextett Op. 118 DIOGENES QUARTETT, THORSTEN JOHANNS Klarinette; cpo
Zwischen den Welten: Im komplexesten Kontrapunkt fühlte er sich wohl und wendig wie der Fisch im Wasser. Dass er sich auch Johannes Brahms verbunden fühlte, stellt dazu keinen Widerspruch dar. So ist Regers Klangsprache neben dem vertikal oft verwirrend dicht gewebten Dahinspintisieren von einer exquisiten romantischen Noblesse getragen. Hier kommen zart gefühlte impressionistische Töne ins Spiel, wie sie sonst nur Debussy so unnachahmlich ins Notenheft zu malen verstand. Das fällt besonders im Klarinettenquinett in A-Dur auf. Die wirbelnden Windströme, auf denen Reger seinen Weg beschritt, ja flog, formen sich zu einem aus heutiger Sicht in Richtung Moderne und Wiener Schule weisenden Klangbild. Nicht umsonst war Reger von Arnold Schoenberg hoch geschätzt und waren seine Werke im berühmten Wiener Verein für musikalische Privataufführungen gern gesehene Gäste. Reger darf insgesamt als ein typisches Wiener Jahrhundertwende-Phänomen wie Mahler, Pfitzner oder Zemlinsky gelten.
Im Kern Ende 1915 fertiggestellt, reichte Reger die finale Partitur zum Klarinettenquintett zehn Tage vor seinem Tod im Mai 2016 zum Druck ein. Das knapp vierzigminütige, wundersam ahnungsvolle Werk ist endzeitlich gefärbt. Wie beim späten Strauss (“Vier letzte Lieder”) stehen dem kalten Krieg und der Massenvernichtung das individuell schlagende Herz, die Unantastbarkeit von Würde, das Beharren auf das letzte persönliche Lied gegenüber. Die in sich ruhende, abgeklärte Klangsprache ist von einer erhaben herben Schönheit, die im Innersten berührt. Vom Raum her gibt sie sich bescheiden und bewegt sich dynamisch in einem klein gesteckten Rahmen. In den Signalen für die Musikalische Welt wurde die Wirkung des Werks so beschrieben: „Über dem elegischen Werk ruht es wie der tiefe, heilige Friede eines milden Herbstabends, den die letzten Strahlen der sinkenden Sonne in ein leuchtendes Gold kleiden.“ Reger erweist hier den Quintetten Mozarts (4. Satz) und Brahms’ Reverenz und schlägt dennoch eine Brücke weit in die Zukunft.
Oft kreist Regers Musik in mystischen, schwer fass- und erfassbaren Bahnen, dreht sich in einem abgeschlossenen System um die eigene Sonne, was ebenso für das Streichsextett in F-Dur Op. 118 aus dem Jahr 1911 gelten mag. Was Reger zu seiner Zeit als ufer- und konturlos ausgelegt und etwa von Walter Niemann scharf kritisiert wurde (“modulatorisch und harmonisch fessellos”, “chaotisches, nichts gebärendes Wühlen”, “in krampfhafter Pose befangen”), erweist sich heute als äußerst spannendes Hörabenteuer. Die verwegenen dynamische Kontraste, das bisweilen – angestrengte – kognitive Spurenlegen und -verwischen (1. Satz) sind die eine Seite. Der Hörer wird aber immer wieder zu Lichtungen reinster Poesie geführt, er darf – wie im unwirklich schönen Largo con gran espressivo – des Komponisten laut Eigendefinition persönlichem “Gespräch mit dem lieben Gott” lauschen.
Thorsten Johanns (Klarinette) als auch das um Roland Glassl (Viola) und Wen-Sinn Yang (Cello) verstärkte Diogenes Quartett legen bei aller strukturellen und harmonischen Komplexität das Sangliche der Partituren präzise frei, schälen die lyrische Frucht behutsam aus der hart zu knackenden Schale. Sie lassen die wie auf Traumpfaden wandelnden Töne üppig aufblühen und begegnen der Urgewalt der Invention mit einer faszinierenden kreatürlichen Unbefangenheit. Sie schichten die verschiedenen Texturen, Krokant wie Nougat, Pistaziencreme wie dunkle Schokolade, zu einem akustischen Leckerbissen mit Suchtfaktor. Besser, intensiver und prächtiger zugleich kann diese Musik nicht serviert werden. Zugreifen!
Dr. Ingobert Waltenberger