CD MARLO THINNES: Beethoven Klaviersonaten; telos music
Von Teuferln, Engerln und allem dazwischen
Das ist es. So klassisch, und dennoch an der Kante gespielte, verblüffende, irrlichternde Beethoven-Sonaten habe ich mir immer gewünscht. Marlo Thinnes, der schon mit seiner Aufnahme der Beethovenschen „Violinsonaten“ mit Ingolf Turban für Furore gesorgt hat, ist jetzt noch einen Schritt weiter in Sachen Kompromisslosigkeit, Rasanz, glühender Fieberkurve, Höllenlachen und nüchtern sphärischer Stille in Sachen persönlicher Erkundung Beethovenscher pianistischer Kosmen gegangen.
Auf dem soeben erschienenen Doppelalbum beschenkt uns Marlo Thinnes mit seiner Sicht auf die Sonaten Nr. 1, Op. 2/1 in f-Moll, Nr. 8, Op. 13 in c-Moll, „Pathétique“, Nr. 11, Op. 22 in B-Dur, Nr. 14 Op. 27/2 in cis-Moll, „Mondschein“, Nr. 18, Op. 31/3 in Es-Dur „Die Jagd“, Nr. 21, Op. 53 in C-Dur, „Waldstein“ und Nr. 23, Op. 57 in f-Moll, „Appassionata“, allesamt Werke der frühen und mittleren Schaffensphase.
Was sind wir doch für eigentümliche Wesen, wir Menschen? Der eigenwillige Sturkopf Beethoven wusste viel von der Janusköpfigkeit unserer Existenz, von Licht und Dunkel, von dionysischen Abgründen des Rausches und prophetisch astronomischer Sternenklarheit. All das kann in unzähligen Texten über den Komponisten bis ins letzte Detail nachgelesen werden.
Aber nur wenige haben in hoher Formvollendung all diese ambivalenten Charakteristiken als Zuspitzung menschlicher Abgründe, Ironien und Verschmitztheiten so unverwechselbar in Töne zu setzen vermocht wie jetzt Marlo Thinnes mit diesen sieben Sonaten. Aber Achtung, es geht zuweilen ungemütlich und verstörend zu, die Suche nach der letzten Wahrheit, die scharfe Rasierklinge der musikalischen Grenzerfahrung fordern ein Mitmachen des Hörers.
Dabei geht Thinnes stets mit der großen Klarheit und der Konzentration eines perfektionistischen Strukturalisten vor, scheint um die schwarzen Ecken und dunklen Schatten der Existenz zu wissen. Von manchen wird er als „Wilder“ apostrophiert. Das suggeriert etwas Unberechenbares suggeriert, deshalb scheint mir dieser Ausdruck nicht zutreffend. Sein kraftvoll gläserner Anschlag, die luzide abgezirkelten Töne, die dominante Artikulation bei sparsamem Pedaleinsatz, all das steht im Dienste einer eindringlich formulierten musikalischen Botschaft.
Erstaunliches ist zu vernehmen: Dem großen Steinway vermag Thinnes bei voller Nutzung der Ausdrucksmöglichkeiten dieses modernen Instruments auch die Vorzüge des Hammerklaviers abzutrotzen. Die aberwitzige Temporegie mancher Sätze könnte Mephisto selbst erdacht haben. Hören Sie das furiose ‚Presto agitato‘ der „Mondscheinsonate“, den ersten Satz der „Waldstein-Sonate“ mit seinem Hämmern und Drängen oder das dämonisch dahin fliegende ‚Allegro ma non troppo – Presto‘ der „Appassionata“. Da stellt sich ein ähnliches Gefühl ein, wie einen Weg von einem steilen steinigen Berg mit dem Fahrrad hinunterzukurven oder Mono-Wasserski im Indischen Ozean zu versuchen. Hinfallen ist da nicht drin. Adrenalin pur, nur für den Hörer weniger gefährlich.
Was Sportliches, aber auch etwas jungenhaft Spielerisches höre ich aus Marlo Thinnes‘ Interpretationen. Es geht ihm um starke Gefühle und kraftvoll gespachtelte Farben. Das ‚Grave‘ der „Pathétique“ weist Thinnes als muskulösen Tonbildhauer aus, das ‚Allegro‘ der Sonate Nr. 1 als in barock perlender Durchsichtigkeit glänzenden Bachspieler. Thinnes liebt es, dynamische Gegensätze auf die Spitze zu treiben, manch schnelle Sätze bekommen einen getrieben gespenstischen Drive. In den langsamen Sätzen bevorzugt Thinnes einen wohltuend sachlichen Ton, wie dies einst auch Gould oder Gulda taten. Rubati platziert er bewusst ausgewählt, und wenn, dann effektvoll abrupt ein. Thinnes serviert uns einen sinnlich-aufwühlenden Beethoven abseits jeglicher Pfade, charakter- und ausdrucksstark. Bitte mehr davon!
Die spannendsten und mitreißendsten Beethovensonaten seit langem!
Direkter und plastisch audiophiler Klang.
Dr. Ingobert Waltenberger