CD MARISS JANSONS letztes Konzert mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks – Mitschnitt aus der Carnegie-Hall vom 8. November 2019; BR Klassik
Musikalisch außer Konkurrenz – erschütterndes Tondokument, dessen Veröffentlichung problematisch scheint
Tourneen großer Orchester sind wichtig. Für die Musiker und ihren Chef. So natürlich auch die Herbsttournee des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks 2019, einem der besten Klangkörper der Welt. Wien, Hamburg, Paris, Köln, Antwerpen, Luxemburg, Essen und schließlich die Carnegie Hall in New York! Jansons, der hoch präzise, detailversessene Chefdirigent und dem Orchester 16 Jahre lang auf Engste verbunden, soll – unter einer schweren Krankheit leidend – in der Carnegie Hall als krönendem Abschluss ein Programm mit Werken von Richard Strauss und Johannes Brahms dirigieren. Aus gesundheitlichen Gründen musste Jansons bereits seine Mitwirkung für die Konzerte am 3., 4. und 5. November in Antwerpen, Luxemburg und Essen absagen. Daniel Harding ist kurzfristig eingesprungen.
New York, 8. November 2019: Die Akustikprobe verlief einigermaßen gut, das Konzert selbst aber soll Berichten zufolge wegen einer plötzlichen Schwäche des Dirigenten mehrfach vor dem Abbruch gestanden haben. Dass der lettische Pultstar unter Aufbringung aller Reserven die Darbietung am 8. November 2019 in der Carnegie Hall zu Ende führte, ist als immenser Willensakt zu respektieren und zu würdigen. Das Pflichtbewusstsein hat aber über die physischen Möglichkeiten obsiegt. Daher ist das musikalische Ergebnis der Vierten Symphonie von Johannes Brahms trotz aller Disziplin der Beteiligten umständehalber nicht auf Augenhöhe mit Jansons und des Orchesters hohen Ansprüchen. Den Chef, der nichts lieber tat, als sich in Partituren als klingende Bücher zu vertiefen, verließ im zweiten Teil des Abends die Kraft.
Die selten gehörten vier „Sinfonischen Zwischenspiele“ aus der Oper ‚Intermezzo‘ op. 72 von Richard Strauss waren für die Bayern noch ein Heimspiel, die instrumentalen Details kommen trefflich zur Geltung, der Schwung und das Raffinement der späten Partitur stimmen. Die einzigartige Orchesterkultur, der silbrig flirrende Klang, die solistischen Einwürfe, all das verhelfen den Ausführenden zu einem letzten großen gemeinsamen Erfolg.
Dann die Pause. Was sich da hinter den Kulissen zugetragen hat, ist in etwa nachvollziehbar, will man den vorhandenen medialen Darstellungen folgen. Auf jeden Fall bringt die Vierte Symphonie in e-Moll Op. 98 von Johannes Brahms alle an ihre Grenzen. Den Dirigenten, das plötzlich orientierungslos wirkende Orchester und auch den Zuhörer zu Hause. Von Interpretation ist kaum noch ein Hauch zu spüren. Das Spitzenorchester wirkt bei dieser berühmten Symphonie nachvollziehbarer- aber gespenstischerweise wie gelähmt. Dass hier etwas nicht stimmt, hört jeder sofort, der das Orchester so wie ich enorm bewundert und fast alle Aufnahmen kennt. Natürlich können Indispositionen aller Art passieren, dafür gibt es in der Regel auch ein breites Verständnis. Aber die Frage muss erlaubt sein, ob solch ein vom Konzertveranstalter erstellter Mitschnitt, der auch von der technischen Seite bei Weitem nicht die übliche olympische Qualität des BR erreicht, veröffentlicht werden muss? Cui bono?
Der Fünfte Ungarische Tanz von Johannes Brahms als Zugabe bringt zwar wieder Leben und Energie, wirkt aber nur noch wie ein letztes Aufbäumen.
Dr. Ingobert Waltenberger