CD: Margherita Santi: „Fantaisies“; Haenssler
Während in der Musik unserer Zeit nahezu alles möglich scheint, bewegten sich die Komponisten früherer Jahrhunderte auf einer Gratwanderung zwischen der Einhaltung formaler Konventionen und dem Drang nach künstlerischer Freiheit. Die Gattung der Fantasie, seit Mozart im Gebrauch, dokumentiert den tief persönlichen Wunsch, die Grenzen des Etablierten zu erweitern. Genau diese kreative Spannung teilt die italienische Pianistin Margherita Santi mit den Schöpfern jener vier Werke, die sie für ihre neue Solo-CD ausgewählt hat. Quasi una fantasia – dabei geht es vor allem auch um einen verbindenden improvisatorischen Geist.
Zu Beginn nimmt sich Margherita Santi Mozarts unvollendete d-Moll-Fantasie KV 397 vor, die vor allem am Anfang wie ein geheimnisvoller Prolog wirkt. Sie entschleunigt das Tempo mehr als sonst üblich, was unmittelbar in tiefe Ausdrucksdimensionen eintauchen lässt. Während die Töne wie Wassertropfen perlen, baut sie die Dramatik schrittweise auf, um dann in einen traurig deklamatorischen Gestus zurückzufallen – auch das zeugt von durchdachter Gestaltung. Der verspielte, heitere Schlussteil erscheint wie ein Fenster in eine hellere Welt, in der produktive Widersprüche dennoch präsent bleiben.
Raffiniert, stürmisch und eigenwillig liefert sie eine in positiver Hinsicht eigen-willige Interpretation von Beethovens „Sonata quasi una fantasia“ cis-Moll op. 27 Nr. 2, der sogenannten „Mondscheinsonate“. Die langsam fließenden, durch großzügigen Pedaleinsatz verhallten Arpeggien des ersten Satzes wirken im Spannungsbogen des gesamten Programms, als wären sie unmittelbar an Mozarts Fantasie dran komponiert. Auch hier scheint einem durch Margherita Santis bewusste Entschleunigung die ganze Wucht dieses Werkes noch näher zu kommen. Der Finalsatz entfesselt ein Spektakel, welches sich ebenfalls zum Aspekt der Freiheit als zentralem Anliegen Beethovens bekennt: Mit packendem Drive hämmert sie die Sforzato-Impulse, formt die Phrasen zu einer rhetorischen Sprache voller Ausrufezeichen, verwebt das Seitenthema meisterhaft in den wogenden Spielfluss, während die Synkopenschläge alles wieder aufwühlen. Nie kommt etwas wirklich so, wie es sein soll, sondern immer wieder ganz anders, wenn man es zulässt. Von solchem Geist beseelt, verdichtet Margherita Santi den letzten Satz des opus 27 zu einem spannenden, atemberaubenden Drama.
Wenn auch die nun folgenden romantischen Werke nicht ganz die Kompromisslosigkeit ihrer Mozart- und Beethoven-Interpretationen erreichen, so zeigt sich Santis künstlerische Eigenwilligkeit auch hier deutlich. In Chopins f-Moll-Fantasie op. 49 knüpft sie wiederum an die träumerische Melancholie der jeweiligen Passagen in den vorherigen Werken an und überzeugt durchweg mit abgestimmter Klangfarbe. Vor allem der Mittelteil zieht in eine bemerkenswerte Kontemplation hinein: In der Art eines sakralen Chorals verschafft sich in diesem Spiel eine universelle menschliche Erfahrung von spiritueller Dimension Gehör.
Schumanns „Faschingsschwank aus Wien“ beginnt heiter und beschwingt, jedoch nicht ohne die notwendige psychologische Tiefe, die durch Margherita Santis vor allem im zupackenden Umgang mit vielfältigen Details zum Ausdruck kommt. Das einzelne Ausdrucksmoment liegt ihr dabei hörbar noch mehr am Herzen als der durchgehende narrative Bogen. Das lebendige Hörerlebnis dieser Aufnahme ist auch Margherita Santis ausgesprochen physischer Anschlagsfinesse zu verdanken, die der russischen Klaviertradition entstammt, welche sie während ihres Studiums in Moskau verinnerlichen konnte. Vor allem überzeugt das Album „Fantaisies“ durch viel Mut zur persönlichen Vision – und das lässt bei dieser weitblickenden Künstlerin aus Norditalien noch viele spannende Entwicklungen erwarten.
Stefan Pieper im Januar 2024
Interview: Margheita Santi zum aktuellen Album