Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD MARC-ANTOINE CHARPENTIER: MESSE Á QUATRE CHOEURS – Carnets de voyage d’Italie; harmonia mundi

11.11.2020 | cd

CD MARC-ANTOINE CHARPENTIER: MESSE Á QUATRE CHOEURS – Carnets de voyage d’Italie; harmonia mundi

Das Pariser Ensemble Correspondance unter der kundigen und lebendigen musikalischen Leitung von Sébastien Daucé schreitet mit dieser CD weitaus größere Zirkel ab, als dies der Titel der CD vermuten ließe. Der relativ größte Teil des Albums ist zwar Charpentiers hochbarocker vierchöriger Messe gewidmet, doch vorher marschieren die reiselustigen Franzosen mit uns – rein virtuell in Klängen, versteht sich – gemeinsam mit dem jungen Charpentier durch Bologna, Venedig, Cremona und Rom. Wie für so viele Musiker aus dem Norden, war Italien für Marc-Antoine Charpentier ein Pilgerland der Inspiration. Es bot sprudelnde Quellen an Innovation, vor allem im frühen 17. Jahrhundert. Schließlich sind ja auch die Oper oder das Oratorium segensreiche italienische Erfindungen…

Zwar gab es auch in Frankreich – und das sogar mehrheitlich – überaus skeptische Stimmen, die überkomplexe Kompositionstechniken, virtuose Exzesse oder emotionales Überschäumen á l‘italiens vehement ablehnten. Charpentier hingegen verbrachte in den späten 1660-er Jahren vermutlich angeregt durch seine Gönnerin Duchesse de Guise drei Jahre in Rom. Der knapp über zwanzigjährige Komponist dürfte seine Reise nach Rom mehrfach unterbrochen haben, um die gerade in andern Städten gepflogenen musikalischen Traditionen bzw. Neuerungen studieren zu können. In Cremona wirkte bis 1665 Tarquinio Merula als maestro di cappella des Doms. Aus dessen Feder hören wir den Vesperpsalm „Credidi propter quod“, eine jauchzend euphorische Komposition für Solo-Bass mit jeder Menge an Sprüngen und exaltierten Verzierungen, begleitet von zwei Violinen und Continuo.

Bologna war schon damals eine alte Universitätsstadt, aber auch ein Zentrum für geistliche Musik. Auf dem Album wird die dem Schutzpatron der Kirche San Petronio gewidmete Motette des Maurizio Cazzati „Salve caput sacro sanctum“ vorgestellt. Als das Werk für zwei vierstimmige Chöre im Druck erschien, könnte sich Charpentier in dieser Stadt aufgehalten haben. Natürlich darf hier auch Venedig mit seinen wundersamen Klängen aus San Marco nicht fehlen. Francesco Cavalli ist zwar primär als Opernkomponist bekannt – von seinen Opern „Il Giasone“, „La Didone“, „La Calisto“ oder „L’Ipermnestra“ gibt es erstklassige Einspielungen auf Tonträger – er hat aber auch wirkungsvolle geistliche Musik hinterlassen. Das kann an der Sonata a 12 in d-Moll, vor allem aber am „Magnificat“ aus dem Jahr 1656, einer Vertonung für drei Chöre, von denen zwei Vokalstimmen und Instrumente kombinieren und der dritte einer reiner Instrumentalchor ist, leicht nachvollzogen werden.

Noch üppigere Besetzungen erwarteten Charpentier in Rom. Da gab es Messen mit bis zu zwölf Chören zu bestaunen, die vor allem von Laienbruderschaften zu besonderen Anlässen bestellt wurden. Komponisten wie Orazio Benevoli, Giuseppe Giamberti oder Francesco Beretta, der auf der CD etwa mit seinem achtstimmigen „Crucifixus“ vertreten ist, waren Meister des Kontrapunkts und der Mehrchorigkeit.

Was hat nun Charpentier von all diesen Eindrücken behalten und wie hat er sie für sein eigenes Werk assimiliert? Die Antwort darauf gibt die den Titel des Albums zierende sechszehnstimmige „Messe á quatre choeurs“. Sie ist die einzige erhaltene mehrchörige französische Messe aus dem 17. Jahrhundert. Vielfältige Kontrastwirkungen durchziehen die Messe: „Soli, Duette und Trios stehen neben von den Chören ausgetragenen antiphonalen Dialogen und Abschnitten für sämtliche sechzehn Stimmen.“ Natürlich verzichtete Charpentier nicht auch Verzierungen im französischen Stil. Musikhistorisch kommt Graham Sadler zu folgendem Schluss: „Mehr als dreißig Jahre nach seiner Rückkehr nach Paris bereicherte Charpentier sein heimisches Idiom noch weiterhin mit aus der italienischen Musiktradition entlehnten Elementen. In dieser Hinsicht gelang es ihm im Alleingang, eine réunion des goûts zu bewerkstelligen, die um mehrere Jahrzehnte die frühesten Stadien des uns heute vertrauteren goûts-réunis eines François Couperin vorwegnahm.“

Das Ensemble Correspondances eint für dieses grandiose Album die für dieses Fach besten 18 Vokalisten und 29 Instrumentalisten. Das Alte Musik Ensemble wirkt seit Jänner 2016 in Residenz am Théâtre de Caen. Es darf als die herausragende Truppe für französische Musik des 17.Jahrhunderts gelten. Das neue Album der kunstvollst gestalteten polyphonen Werke ist luftig leicht musiziert, präzise, voller erstaunlicher Effekte (manche bezeichnen das als Manierismus) und lehrreich dazu. Was will der Liebhaber barocker Wonnen in diesen kargen Zeiten mehr? Die dichten polyphonen Netze wirken wie ein Trampolin für das Gemüt. Sollte die Befindlichkeit einmal unten sein, sorgt die Spannung rasch für den nächsten Höhenflug.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken