CD MARC-ANTOINE CHARPENTIER: MEDÉE; Véronique Gens und Cyrille Dubois als Medée und Jason; alpha
„Medée ist vielleicht eines der wenigen Werke des französischen Repertoires des 17. und 18. Jahrhunderts, das uns heute in gleicher Weise Tränen zu entlocken vermag wie die romantische Oper des darauffolgenden Jahrhunderts.“ Benoît Dratwicki
Jean-Baptiste Lully, unter Ludwig XIV. Lully zum einflussreichen Sur-intendant de la musique du Roy avanciert, war gemeinsam mit seinem Librettisten Philippe Quinault Erfinder der hoch artifiziellen Kunstform „Tragédie lyrique.“ 1673 ging „Cadmus et Hermione“ als erste dieser formal fünfaktigen Opern samt Ouvertüre und Prolog (mit obligatem Lobpreis des Königs) über die Bühne. Ballet de cour, Pastorales, spektakuläre Effekte, instrumentale Wunder.
Vielleicht war aber der Schöpfer des aus heutiger Sicht unglaublichsten Spitzenwerks des Genres, Marc-Antoine Charpentier, der 1693 mit seiner „Medée“ auf ein Textbuch des Thomas Corneille so ganz und gar keinen Erfolg hatte. Als „mechant Opéra“ bzw. zu gelehrsam abgetan und ob eines Zuviels an Italianità kritisiert, sollte es erst 300 Jahre später zum Durchbruch dieser heroischen „Tragédie en musique“ kommen. Das Schicksal der übel betrogenen Frau, die den König in den Wahnsinn treibt, zur Mörderin von Mann und Kindern wird und ihre Widersacherin in ihrem Hochzeitskleid verbrennen lässt, hat die Opernwelt um etliche Meisterwerke bereichert.
Dank Pionieren wie Jean-Claude Malgoire, William Christie oder Michel Corboz ist „Medée“ heute eine der am häufigsten aufgeführten französischen Barockopern. So feierte „Medée“ in Berlin an der Staatsoper Unter den Linden am 19.11.2023 (mit Sir Simon Rattle am Pult; Magdalena Kožená in der Titelpartie) Premiere. An der Opéra national de Paris/ Palais Garnier wird „Medée“ nun überhaupt erstmals in einer Neuinszenierung (William Christie, David McVicar) vom 10.4. bis 11.5.2024 zu sehen sein.
Daher ist es auch nicht außergewöhnlich, dass Alpha Classics eine Studioeinspielung der magisch schönen „Medée“, aufgenommen in März 2023 in der Cité de la Musique, vorlegt, zumal die davor letzte Studioproduktion unter der musikalischen Leitung von William Christie (seine zweite Aufnahme dieser Oper) nun schon 30 Jahre zurückliegt.
In jeder Hinsicht spektakulär sind die musikalische Qualität der Wiedergabe sowie die Intensität der Tragédie, die in der Besetzung mit Véronique Gens als Medée und Cyrille Dubois in den beiden Hauptrollen sowie dem tempo-akzentuierten, tänzerischen Dirigat des Altmeisters Hervé Niquet für meine Ohren ihre (vorläufig) definitive Umsetzung gefunden hat. Dazu trägt auch bei, dass die neuesten wissenschaftlichen Informationen betr. Spielweise von Orchester und Continuo in das quick lebendige Musizieren eingeflossen sind und alle Angaben des Komponisten u.a. zu Instrumentierung, Tutti/Solo, Raumklang, sparsame Ornamentierung strikt beachtet wurden.
Musikalisch funktionieren die einzelnen Aufzüge nach demselben Schema: Den die Handlung vorantreibenden Rezitativen stehen sogenannte Divertissements gegenüber, die wiederum Ballett und Chor beschäftigen. Die Instrumentierung mit einer fünfstimmigen französischen Streichersektion, Blockflöten, Oboen, Fagotten und Trompeten erlaubt klangliche Effekte, die die seelische Befindlichkeit nicht nur der Titelheldin bis in die letzte Faser ihres Herzens nachbildet. Daher war es völlig unverständlich, dass Rattle und Sellars in Berlin auf wesentliche Teile dieser Divertissements verzichtet haben. Der jeweils emotionale Status und die psychologische Entwicklung der Titelheldin waren damit musikalisch arg beschnitten.
Nicht so in der Neuaufnahme mit Niquet, die die Partitur der Oper komplett umsetzt. Die Continuogruppe besteht aus sieben Musikern, bezüglich der Aufstellung der Instrumentalisten hat man sich an diejenige der Académie royale de musique gehalten.
Der Erfolg von „Medée“ gründet sich nicht zuletzt darauf, dass uns die Titelheldin als rührend liebende, zärtlich fürsorgliche Frau und Mutter begegnet und sich erst nach und nach, von Jason verlacht, vom Hof des Kreons und ihren Kindern verbannt, in das grausame Rachemonster verwandelt. „Medée“ kann als ein bis heute modern zeitloser Thriller um eine(n) Jederfrau/Jedermann begriffen werden, die in ihrer Verzweiflung, sich nicht mit der Opferecke, die die Gesellschaft für ihn /sie auserkoren hat, abfindend, zu Handlungen fähig ist, die außerhalb der Vorstellungskraft jedes vernunftbegabten Wesens liegen. Die Projektions- und Identifikationsflächen mit dem Publikum ergeben sich daraus wie von selbst.
Dass die 2023 mit dem Ehrenpreis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnete Véronique Gens, die Großmeisterin der tragisch antikischen Heldinnen der französischen Barockoper, eine höchst erfahrene (Ausschnitte aus „Medée“ waren bereits auf ihrer Solo-CD „Passion“ 2021 zu hören und haben den Appetit auf mehr geschürt) und mit ihrem bernsteinfarben dunklen Sopran à la Crespin exzellierende Interpretin zur Verfügung stand, ist aus mehreren Gründen ein Glück: Erstens erlauben es die jahrzehntelangen Erfahrungen der Sängerin, in diesem wortausdeutend wie rhythmisch so heiklen Fach, sich stilistisch so schlafwandlerisch sicher wie der Fisch im Wasser zu bewegen. Zweitens kontrastiert die reifere dramatische Stimme deutlich mit dem unverschämt jungenhaft klingenden Tenor des Cyrille Dubois, was insinuiert, dass er Medée nicht nur aus politischen Gründen, sondern ganz einfach aus den üblichen Beweggründen der Beziehungsungleichzeitigkeit für Créuse (Judith van Wanroij) stehen lässt. So wird das Drama noch um einen Generationenkonflikt der Ex-Liebenden anreichert.
Die übrige Besetzung mit Thomas Dolié (Créon), David Witczak (Oronte), Hélène Carpentier (La Victoire, Nérine, L’Amour), Adrien Fournaison (Le chef du peuple, un habitant, un Argien, la Vengeance), David Tricou (un berger, un Argien), Fabien Hyon (un berger, Arcas, La Jalousie), Jehanne Amzal (une Italienne, Cléone; etc.) und Marine Lafdal-Franc (La Gloire, etc.) fügen sich wie maßgeschneiderte Handschuhe ins handverlesene Spezialistenteam.
Grandios!
Dr. Ingobert Waltenberger