CD MARC-ANTOINE CHARPENTIER „Auprès du feu l’on fait l’amour“ – Airs sérieux et à boire – LES ÉPOPÉES, STÉPHANE FUGET; Château de Versailles Spectacles
Anzüglich und deftig, bzw. zärtlich bis galant geht es zu in diesen „ernsten“ Arien und Trinkliedern des Marc-Antoine Charpentier zu. Berühmt für die Signature der Eurovisionshymne, die seinem „Te Deum“ entliehen ist, bzw. vielen Barockmusikliebhabern für seine exquisiten Opern eine allererste Adresse – erst am 17.6. konnte ich über eine hervorragende Aufführung von „David & Jonathas“ in Potsdam berichten, einer gelungenen Koproduktion zwischen der Opéra Royale / Château de Versailles Spectacles und den Musikfestspielen Sanssouci – lernen wir auf dieser CD den barocken Tonsetzer von einer ganz anderen Seite kennen und schätzen.
Typische Salonmusik, erfreuten sich die ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beliebten „Airs“ bei Aristokraten wie Bürgerlichen der gleichen gesteigerten Aufmerksamkeit. Man traf sich zu Lesungen, Musik, Plauderei, Häppchen und allerlei Spielchen und Rätselratereien. Singen durften alle, die Stimme, Temperament und improvisatorisches Geschick hatten. Als Vorläufer der „Airs sérieux“ fungierten die Hoflieder, kurze monodische bzw. polyphone Stücke mit Lautenbegleitung. Sie konnten Tanz- oder Trinklieder, Chansons oder galante Lieder sein. Später ersetzte das Cembalo die Laute, sonst blieb alles im Wesentlichen so, wie es war. Charpentier schrieb an die vierzig solcher Airs, die überwiegend nicht in Handschriften, sondern vor allem in gedruckten Bänden wie den von Christophe Ballard editierten „Recueils d’airs sérieux et à boire“ oder der Monatszeitschrift „Mercure galant“ überliefert sind.
Einige der auf dem neuen Album präsentierten Arien stammen aus umfangreicheren Werken, wie beispielsweise „Oiseaux de ces bocages“, das einem Intermezzo zu Molières „Eingebildetem Kranken“ entnommen ist. Oder aber sie bilden die letzten erhaltenen Überreste sonst vergessener Opern, wie derjenigen mit dem Titel „L’Inconnu“. Die beiden Arien ‚Ne fripez pas mon bavolet‘ oder ‚Il faut aimer, c’est un mal nécessaire‘ mögen als repräsentative Beispiele dienen. Drei Stanzen in g-Moll (=Strophenlied mit einem bestimmten Reimschema) aus „Le Cid“ nach Versen von Pierre Corneille sind besonders kostbare Exempel wieder verlebendigter musikalischer Preziosen aus dem „Mercure galant“. Von den sechs geplanten Stanzen der sechsten Szene aus dem ersten Akt des Cid wurden aber nur die ersten drei im Mercure zu Druck gebracht.
Auch sonst gab sich Charpentier nicht mit weniger als den besten Dichtern zufrieden. So parodierte der Komponist mit ‚Feuillages verts, naissez‘ eine eigene Arie aus der unvollendeten Oper „Galatée“ nach Worten von La Fontaine.
Die meisten Gesänge sind einstimmig geschrieben, mit oder ohne basso continuo. Strophisch zweiteilig organisiert (mit oder ohne Wiederholungen) war besonders die Rondoform beliebt, wo der erste Teil nach dem zweiten erneut erklang. Obwohl modemäßig schon die Ausnahme, kam Charpentier in Nummern wie ‚Au bord d’une fontaine‘ auf die hohe Kunst des Doubles, der virtuosen Verzierungen, zurück. Wo es um Untreue und Liebesschmerz ging, griff Charpentier schon mal tief in die Kiste der Tragédie lyrique mit allerlei Chromatik, Dissonanzen, metrischen und rhetorischen Effekten (‚Rendez-moi mes plaisirs‘, Tristes déserts, sombre retraite‘). Wir gehen ohnedies davon aus, dass sich Interpreten damals ohnedies alles erlaubten, was ihnen spontan einfiel, das Publikum erbaute oder erheiterte.
Zwei Arien wurden zu Ehren des Königs geschrieben: ‘Á ta haute valeur‘ wurde für die vom Herzog Richelieu organisierten Feierlichkeiten in Reuil 1685 verfasst. ‚Que Louis pas sa vaillance‘, einem königlichem Almanach Ludwigs XIV. entnommen, feiert die Rückkehr des Monarchen von einem Ausflug ins Elsass.
Die Trinklieder der Sammlung sind für eine Bassstimme oder zwei/drei Stimmen geschrieben. Hier geht es öfter um Lautmalereien (‚glouglou‘, ‚plin plan, plin, plan‘), Alliterationen, die zügellose Freude an der Trunkenheit oder allgemein um beißende Satire.
Musiziert wird auf der vorliegenden CD gehörig schnittig, passgenau nach Text und musikalischer Substanz. Claire Lefilliâtre, Gwendoline Blondeel (dessus), Cyril Auvity (haute-contre), Marc Maullion (taille) und Geoffroy Buffière (basse) können es je nach Stimmung sentimental schmachtend, frech, tänzerisch, weinselig, kokett, seufzend, wehmütig oder glühend leidenschaftlich. Stéphane Fuget begleitet beherzt vom Cembalo aus und hat die musikalische Leitung inne. Unterstützt wird er im basso continuo stilsicher und eloquent von Alice Coquart und Mathias Ferré (basse de violon), Pierre Rinderknecht (Theorbe) und Léo Brunet (Gitarre).
Dr. Ingobert Waltenberger