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CD-Besprechung-Konzert-Gustav Mahler. Neuerscheinung. Odradek Records, ODRCD 440

16.03.2023 | cd

Andrea Lorenzo Scartazzini
Incatesimo

Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 4 G-dur

maje

 

Andrea Lorenzo Scartazzini
Einklang
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 5 cis-moll

Lina Johnson, Sopran
Jenaer Philharmonie
Simon Gaudenz, Leitung

Odradek Records, ODRCD 440

Mahler aus Jena

Ein besonders spannendes Großprojekt beginnt in diesem Jahr für das Label Odradek Records. Dieser Tage wird die erste Doppel-CD einer kompletten Aufnahme aller Sinfonien von Gustav Mahler veröffentlicht. Ungewöhnlich dabei ist, dass dazu der Schweizer Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini zu jeder Sinfonie Mahlers ein ergänzendes kurzes Orchesterstück komponiert. Scartazzini versteht seine Kompositionen als Brücke in die Gegenwart. Er befragt dazu Mahlers Musik in vielerlei klanglichen Assoziationen nachhaltig.

Die Aufnahmen werden von der Jenaer Philharmonie und ihrem Generalmusikdirektor Simon Gaudenz eingespielt.

Dieses Orchester ist das größte Sinfonieorchester Thüringens mit einer langen Tradition, drei eigenen Chören und einer hohen Qualität. Das Orchester überzeugt durch sein sehr gutes Zusammenspiel und seinen warm tönenden Klangcharakter. Dieses gewaltige Projekt mutet kühn an, da Jena in den Wettbewerb zu den großen internationalen Orchestern tritt, die vielfach Mahlers Werke eingespielt haben. Umso dringlicher stellt sich die Frage nach dem Grund. Die Antwort ergibt sich aus dem Höreindruck!

Zu erleben ist einmal mehr die wunderbare Vielfalt der Mahlerschen Musik. Simon Gaudenz und seine Philharmoniker aus Jena haben eine persönliche Aussage mit Mahlers Musik. Im Zentrum steht die Schönheit des Klanges, ohne zu deutliche eigene interpretatorische Handschrift. Scartazzinis Werke sind dabei mehr als nur zeitgenössische „Beigaben“. Sie sind hörenswert und spannend zugleich.

Den Anfang machen die mittleren Sinfonien Mahlers.

Für die hier vorliegende vierte Sinfonie schrieb Scartazzini die Komposition „Incantesimo“. Mit diesem Orchesterlied ergibt sich ein vokaler Rahmen, da Mahlers vierte Sinfonie bekanntlich mit einem Sopran Solo endet. Scartazzini wählt das Eichendorff-Gedicht „Abendständchen“, in welchem kindliches Staunen und Träumen sich die Hand reichen. Beschworen wird eine verklärende, scheinbar heile Abendstimmung und doch ist diese doppelbödig, wie eben auch die Musik Mahlers.

Die norwegische Sopranistin Lina Johnson beginnt mit sensibel angestimmten Tonfall und muss sodann weit ausholende Tonsprünge in die Höhe ihres belastbaren Koloratursoprans ausführen. Mit guter Intonation und warmer Stimmgebung gefällt sie, einzig die Textverständlichkeit und der Ausdruck geraten bei ihr zu deutlich in den Hintergrund.

Scartazzinis Musik nimmt den Zuhörer einladend bei der Hand und führt diesen in eine vielschichtige Klangwelt, die eigen ist und mehrdimensional wirkt. Assoziationen zum großen Gustav entstehen beim Zuhören dieser kleinen Klangreise. Direkt im Anschluss beginnt dessen vierte Sinfonie.

Simon Gaudenz gestaltet dieses Werk im ersten Satz mit Liebreiz und gespielter Naivität, wären da nicht die sehr charakteristischen Holzbläser, die einen intensiven Dialog anstimmen. Selten ist das Stimmengeflecht mit so viel klanglicher Eigenart anzutreffen. Die Streicher gefallen mit Klarheit und Transparenz. Auch das Solo-Horn weiß mit seinem strahlenden Ton eine selbstsichere Klangfarbe zu setzen. Allzu diskret ist hier jedoch das Schlagzeug zu vernehmen. Das Schellengeläut ist viel zu leise und auch die Beckenschläge wirken allzu schüchtern und verschämt. Da fehlt die Lebensfreude in der klanglichen Ausgestaltung.

Im zweiten Satz arbeitet Gaudenz das Zwielichtige der Musik wenig heraus. Schattenhaft und grotesk raunt die Musik, bleibt dabei hier in der Auslegung des Dirigenten vorwiegend freundlich. Ungemütlich wird es da nur selten. Spätestens hier zeigt sich ein besonderes Merkmal der Jenaer Philharmonie in deren Spielweise: ein Orchester im Dialog. Faszinierend, wie expressiv Bläser und Streicher sich miteinander austauschen. Da wäre noch mehr gestalterische Tiefe möglich gewesen.

Mit großer Weite und inniger Tonschönheit wird das Adagio in ein helles warmes Licht getaucht. Streicher und Bläser überbieten sich in feinsten Klangnuancen, dynamisch fein schattiert. Ein sehr stimmungsvoller Vortrag, der sich auch in den gut gefühlten Übergängen ausdrückt.

Umso schmerzlicher ist es dann, wenn Gaudenz auch hier wieder das Schlagzeug viel zu weit in den Hintergrund stellt. Die beiden Beckenschläge in diesem Satz sind ein Witz, derart kraftlos, ohne Spannung, völlig verpufft. Das schmerzt. Selbst die Pauke darf ihr wichtiges fünf töniges Rhythmus Motiv, was diesen Satz so prägt, auf dem Höhepunkt nur dynamisch gedrosselt vortragen. Damit wurde diesem sonst so herrlich musizierten Satz viel entscheidender Effekt genommen. Mahlers Musik wirkt zu gefesselt und nicht befreit. Sehr schade.

Allzu ambivalent ist der vierte Satz geraten. Beeindruckend ist einmal mehr das wunderbare Orchesterspiel, die Transparenz und Farbigkeit. Gaudenz gewährt hier auch die ein oder andere ironische Farbe. Aber da ist noch das so wichtige Sopran-Solo, welches Mahler sich mit kindlichem Ausdruck gewünscht hat. Nun, davon ist Sopranistin Lina Johnson meilenweit entfernt. Solide und allzu fraulich in der Tongebung absolviert sie ihren Part mit zu viel lässiger Routine. Die Textverständlichkeit ist suboptimal, was jedoch schwerer wiegt, ist die völlige Ahnungslosigkeit im Umgang mit dem Text. Bei Johnson klingt dieser so, als wüsste sie nicht, was sie da singt. Das ist nachlässig und einfach ärgerlich, weil es dieser ansonsten gelungenen Aufnahme die Wirkung empfindlich beeinträchtigt. Derart betont beiläufig sollte Mahler nicht gesungen werden. Es bleibt zu hoffen, dass bei den anderen Vokal Sinfonien mehr Sorgfalt auf den Textausdruck gelegt wird.

Eine sehr lyrische, fein musizierte vierte Sinfonie, die den großen Klangmomenten aus dem Weg geht und doch durch ihre besondere Tonschönheit der Jenaer Philharmonie überzeugt. Simon Gaudenz hat die Partitur hörbar genau studiert und vermittelt hörenswerte Ideen, die so manches neue Detail offenbaren. Etwas mehr Temperament und vor allem auch ein mutigeres Loslassen beim Fortespiel, stünde seinem Dirigat gut an. Mahler ohne Gefühlsextreme wirkt zu gezähmt und kommt somit dem Wesen dieses genialen Komponisten zu wenig nahe.

Die Aufnahme klingt herrlich natürlich und warm mit zu distanziert eingefangenem Schlagzeug. Aber auch das kann ein Höranreiz sein, für jene, denen Mahlers Freude am Schlagzeug zu sehr ausgeprägt erscheint. Jeder Hörer hat seine eigenen Vorlieben….

Die zweite CD beginnt wieder mit einer Komposition von Andrea Lorenzo Scartazzini. Sie heißt „Einklang“. Scartazzini schrieb hier einen Ruhepunkt zu den Gefühlsexzessen der fünften Sinfonie von Mahler. Weite, Kontemplation und an Mahler denkend, einen „Naturlaut“ schreibend, vermittelt Scartazzinis Musik viel Atmosphäre, die nahtlos in den ersten Satz von Mahlers Sinfonie mündet. Befremdlich, aber warum nicht?

Was dann kommt, ist kein orchestraler Exzess für ein wild aufspielendes Orchester, auch die auskomponierte Untergangsstimmung des ersten Satzes findet nicht statt. Alles wirkt dynamisch zu kontrolliert, vor allem den lauten Passagen fehlt der Biss und die geforderte Attacke.

Simon Gaudenz verfolgt auch mit der fünften Sinfonie einen an betonter Klangschönheit orientierten Interpretationsansatz. Dies fördert Details an die Oberfläche, die leicht im orchestralen Getöse untergehen können. Bei ihm klingt Gustav Mahler anders, immer etwas zu leicht, dafür jedoch sehr durchsichtig. Verletzungen, Risse, Brüche und Gefühlsextreme bleiben in seinem Dirigat außen vor.

Bereits die einleitende Trompete zeigt, hier ist defensives Musizieren angesagt. Selten bleiben die Trompeten im furiosen ersten Satz so deutlich zurückhaltend im Orchester Tutti eingebunden. Auch das Schlagzeug, glücklicherweise nicht mehr so fade wie in der Aufnahme der vierten Sinfonie, spielt zurückhaltend. Mahler liebte Schlagzeug sehr und es wäre den Musikern des Orchesters zu wünschen gewesen, dass der Dirigent ihnen an dieser Stelle mehr dynamischen Entfaltungsraum in den lauten Stellen gewährt hätte.

Somit bleibt der gesamte erste Satz zu streng kontrolliert und damit fehlt die Ekstase des Gefühls, die Mahlers Musik so einzigartig macht. Einmal mehr begeistert das ausgezeichnete Spiel der Jenaer Philharmonie, die wirklich miteinander musizieren und doch bleibt der Wunsch nach befreitem, risikofreudigem Musizieren unerfüllt.

Auch im zweiten Satz bleibt dieser Eindruck der Überkontrolle bestehen. Es gibt nicht die geforderte „größte Vehemenz“. Vielmehr wirkt die vorgetragene Musik zu sehr auf Sicherheit spielend interpretiert. Ob in den Zuspitzungen oder der Apotheose: es beschleicht einen das Gefühl, etwas vorenthalten zu bekommen. Die letzten zehn Prozent Gefühls- und Spielintensität. Da die Trompeten in diesem fordernden Satz zuweilen etwas schwächeln, kann dies auch ein Zugeständnis an das Orchester sein. Hier überzeugen wieder mehr die Ruhepunkte, die intensiver wirken als jeder Forte Ausbruch. Sehr schön gelingt es Gaudenz, die Spannung wieder aufzubauen. Dennoch bleiben die ersten beiden Sätze der Sinfonie interpretatorisch viel zu brav und im Ausdruck deutlich unterbelichtet.

Das Scherzo kommt dem Dirigenten deutlich entgegen, da hier wieder das Dialogische im Vordergrund steht. Wenn es um Transparenz und um aktiven Austausch innerhalb der Instrumentengruppen geht, dann zeigen diese Aufnahmen der beiden Sinfonien ihre zentralen Stärken. Hinzu kommt hier in diesem dritten Satz ein fabelhaftes Solo des Hornisten, der mit leuchtendem Ton dieses Scherzo veredelt. In der Gestaltung des Tempos wäre ein freierer Umgang der Wirkung zuträglich.

Das im Tempo recht zügige Adagietto wirkt zu keinem Zeitpunkt übereilt und begeistert in seiner kostbaren Intimität. Die Streicher der Jenaer Philharmonie agieren wie ein Instrument und können bis zum kaum hörbaren Pianissimo zurückgehen. Impulsgeber ist die überaus aktiv intonierende Harfe. Sicherlich in seiner Geschlossenheit und Klangqualität der Höhepunkt dieser Veröffentlichung.

Im beschließenden Rondo Finale konzentriert sich Gaudenz vorrangig auf Überblick und kontrollierte Dynamik, so dass auf dieser Basis die Sinfonie homogen zum Abschluss gebracht wird. Allein auch hier wäre ein freieres Tempo, welches vor der Apotheose etwas abbremst, wirkungsvoller. Zu verhalten sind Trompeten und Posaunen zu erleben, was bedauerlich ist, da in diesem Satz von dieser Gruppe wesentliche Energien für die Tutti-Wirkungen ausgehen.

Abschließend lässt sich sagen, dass hier zwei wirklich individuelle Dirigate mit einem sehr hingebungsvollen Orchester festgehalten wurden. Dabei sind die Darbietungen kurzweilig und das Orchesterspiel überaus kultiviert.

Diese Mahler Aufnahmen haben hörbar eine ganz eigene Handschrift und stellen vor allem für Zuhörer eine attraktive Alternative da, die Gustav Mahler ohne Gefühlsüberschwang erleben möchten. Mahler ohne Weltschmerz und Ekstase, sondern in demonstrativ weichgezeichneter Schönheit.

Seine Sinfonien werden von der Jenaer Philharmonie mit ausgeprägter Sensibilität und unbedingten Willen zur Schönheit gespielt. Schroffes, Grelles oder Extremes bietet der Interpretationsansatz von Simon Gaudenz nicht. Ebenso werden Tempo-Eigenheiten und Rubati vermieden.

Musik ist vielfältig und somit ist es gut, dass es diese Aufnahmen gibt, denen es gelungen ist, Mahler in einer ungewohnten Farbskala zu offerieren.

Als regionales Dokument sind die beiden Einspielungen eine schöne Erinnerung für ein gewaltiges Projekt. Scartazzinis Kompositionen sind hörenswerte Ergänzungen, denen eine charakteristische Prägnanz fehlt. Seine Musik ist nicht erinnerlich, bleibt nicht haften, obschon das Potential dazu im „Incantesimo“ dazu vorhanden ist.

Um im internationalen Vergleich mit den Aufnahmen bestehen zu können, sei den Protagonisten für die weiteren Einspielungen mehr Mut zum spielerischen Risiko, zum freieren Tempo-Umgang und vor allem zur dynamischen Gefühlsekstase gewünscht.

Dirk Schauß, im März 2023

 

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