CD LUDWIG van BEETHOVEN: MISSA SOLEMNIS, Op.123; Alpha Classics
„Bei der Komposition dieser Messe hielt sich Beethoven streng an den Text in der liturgischen Reihenfolge und betonte dabei im Kyrie das Gebet, im Gloria die Lobpreisung, im Credo den Glauben an den Menschen, im Sanctus und im Benedictus das emotionale Wunder der Musik und im Agnus Dei das Streben nach innerem Frieden, das untrennbar mit einer wahrhaft menschlichen Streitbarkeit verbunden ist.“ Elisabeth Brisson
Beethovens feierlicher Messgigant sollte bekanntlich nach der Idee des Komponisten zur Inthronisierung seines Schülers und Mäzens Erzherzog Rudolf zum Erzbischof von Olmütz fertig sein. Es kam jedoch anders. Beethoven überzog um Jahre und anstatt im Mährischen im März 1820 fand die Uraufführung der gesamten Messe erst am 7. April1824 in St. Petersburg statt; dies nicht im Zusammenhang mit einer katholischen Liturgie, sondern als Konzert von Gnaden des Fürsten Golizyn.
Gut Ding braucht halt Weil und wir alle wissen, dass es sich bei dieser „Missa Solemnis“ um eine der größten Spitzenschöpfungen der abendländischen Musik handelt. Unzählige Aufnahmen in unterschiedlichen Qualitätsklassen und Formaten legen davon ein beredtes Zeugnis ab
Jérémie Rhorer und das auf Instrumenten der Entstehungszeit spielende Orchester Le Cercle de l’Harmonie gehen bei ihrer Interpretation davon aus, dass es besonders von der Wahl der Tempi abhängt, ob die Übung gelingt oder nicht. Denn die Ästhetik der Postromantik hätte dazu beigetragen, dass die Musik oftmals schwerfälliger und langsamer gespielt wird. Auch hätten viele Wiedergaben unter (barocken) Inspirationsquellen wie Georg Friedrich Händels „Messias“ gelitten. Bei den Tempi geht es Rhorer nicht zuletzt darum, ob sich die Solisten und der Chor wohlfühlen, „denn der Atem stellt eine der großen Schwierigkeiten dieses Werks dar.“
Ganz recht hat er mit diesem Statement nicht. Denn im entgegengesetzten Extrem, ergo zu schnell genommenen Fugen, können Chöre auch ganz schön in die Luft-Bredouille kommen. Beispiel gefällig? Im „Gloria“ ist Arturo Toscanini 1940 live in bester Formel I-Manier mit quietschenden Reifen unterwegs. Da geht es im nicht adäquat reagierenden Westminster Choir fürchterlich drunter und drüber. Kommt die schlechte Tonqualität des NBC hinzu, ist nur noch ein rasendes Chaos zu hören. Da kann auch eine íllustre Sängerriege mit Zinka Milanov, Bruna Castagna, Jussi Björling und Alexander Kipnis kaum etwas retten.
Im Vergleich: Rhorer braucht für „seine“ Missa Solemnis 71,40 Minuten. Karl Böhm 1955 mit den Berliner Philharmonikern 81,56, Leonard Bernstein ca. 78 (Sony), Kurt Masur auf der Teldec-Aufnahme 73,35, Nicolaus Harnoncourt live Salzburg 1992 (Teldec) 80,18 und Sir Colin Davis mit dem LSO sprengt den Zeitrahmen mit behäbigen 83,4 Minuten. Wenn also einige der Meilensteine in der Plattengeschichte des Werks betrachtet werden, kommt man drauf, dass die Frage der Tempi alle Dirigenten beschäftigt hat und es fast zu genau so vielen verschiedenen Ansätzen und Lösungen kam, wie es Interpretationen gibt. Schlussfolgerung: Vielleicht ist nicht primär das Tempo qualitätsbestimmend, sondern ein in sich insgesamt schlüssiger Umgang mit der Partitur.
Was mich an der neuen Aufnahme unter Jérémy Rhorer sofort anspricht, sind die Flüssigkeit der Wiedergabe, die vom Kyrie bis zum Agnus Dei gehaltene Spannung, die agogischen Feinheiten besonders in Verbindung mit harmonischen Wechseln und Übergängen sowie eine opernhafte Kulinarik des Klangs.
Die Interpretation stützt sich auf die akribische Ausleuchtung der Noten durch Dirigenten und Orchester im Hinblick „auf alle vom Komponisten vermerkten Zeichen“ mit direkten Konsequenzen für Klangfarben, die Balance zwischen den Instrumenten und die Interaktion zwischen Chor und Orchester.
Rhorer gelingt das Kunststück, den kernig schlanken und dennoch überaus warmen Sound des Originalklangensembles in eine kohärente Harmonie mit dem spezifisch frischen Klang der 2007 gegründeten Audi Jugendchorakademie zu bringen. Dieses exzellente Auswahlensemble setzt sich aus 70 Sängerinnen und Sänger im Alter von 16 bis 27 Jahren zusammen. Sie stammen aus dem Gebiet der gesamten Bundesrepublik und aus Österreich. Der Chor steht unter der künstlerischen Leitung von Prof. Martin Steidler. Angenehmerweise ist zu konstatieren, dass die Sopranhöhen frei und rund strömen als auch die Stimmen genügend Kraft und Reserven haben, um die nötige, dem Orchester ebenbürtige Fülle auszuweisen.
Als besonders bemerkenswert in der Lesart von Jérémy Rhorer erscheint der wunderbar retardierende Übergang von „cum Sancto spiritu“ zur Schlussfuge des Gloria („In Gloria Dei Patris. Amen“). Die Fuge selbst nimmt Rhorer unglaublich flott. In hoher Präzision schwingen sich die Stimmen zu einem unglaublichen Jubel als ekstatische Lobpreisung der gesamten Schöpfung auf.
Chor und ein mehr als solides Solistenquartett (Chen Reiss Sopran, Varduhi Abrahamyan Alt, Daniel Behle Tenor und Tareq Nazmi Bass) wachsen im spezifischen Fluidum von Abgrund und Erlösung über sich selbst hinaus. Die vielfältigen Botschaften gehen in ihrer musikalischen Transzendenz dieser emotional so engagierten Neuaufnahme direkt unter die Haut.
Die Umsetzung der vom Komponisten minutiös beschriebenen Tempi (allerdings anders als bei den Symphonien ohne Metronomangaben) und die berstende Dramatik überzeugen mich mehr als dies etwa bei Harnoncourts berühmten Lesarten der Fall ist – drei davon sind offiziell auf Tonträger bzw. als Film erhältlich. So etwa überwältigt die wundersame Kraftentfaltung der energetisch aus allen konventionellen Nähten platzenden Fuge „Et resurrexit“ enorm.
Die „Missa Solemnis“ feiert nicht nur Gott und Gläubigkeit, sondern enthält überhöht Universelles und nicht minder Konfliktbeladenes, ewig Widersprüchliches der menschlichen Existenz, wie wir das vom späten Beethoven etwa auch mit der „Neunten“ erfahren. Die Missa thematisiert eindeutig die Schrecken des Krieges, das Brennen der Welt im „Agnus“ wie dazu korrelierend die flehentliche Friedensbitte „Dona nobis pacem“.
Der von Rhorer pastos modellierte mediterrane Klang im „Benedictus“, die hymnische wie unprätentiöse Feierlichkeit im „Osanna in excelsis“, die geschärfte Rhetorik des liturgischen Textes im letzten Satz und besonders die unheimliche Verdunkelung im „Miserere nobis“ lassen keinen Zweifel daran, dass im Fortschreiten die spirituelle Seite im Album nach und nach immer intensiver angesprochen wird. Die finale Friedensbitte wird vom Chor lichtdurchtränkt angestimmt. Die von Trompetenfanfaren begleiteten angstvollen solistischen Einwürfe machen einer utopischen Apotheose Platz, die zumindest für kurze Momente das Gefühl zulässt, der Gang der Geschichte könnte auch ein anderer sein.
Fazit: Eine „Missa Solemnis“ unserer Zeit, kraftvoll und klar in ihren Aussagen, hochemotional und mitreißend von den überwiegend jungen Beteiligten dargeboten.
Dr. Ingobert Waltenberger