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CD LUDWIG VAN BEETHOVEN „Klaviersonaten“ BORIS GILTBURG; Naxos

10.12.2021 | cd

CD LUDWIG VAN BEETHOVEN „Klaviersonaten“ BORIS GILTBURG; Naxos

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Der israelisch russische Tastenvirtuose Boris Giltburg ist nicht nur ein Pianist, der von enzyklopädischem Ehrgeiz getrieben, seine 32 Sonaten lernt, sie aufnimmt und damit basta. Bis zum Jahr 2020 hat er nur neun Sonaten gespielt, die „Pathétique“, die „Waldsteinsonate“ und das Opus 111 hat er schon 2015 für Naxos aufgenommen, und zwar auf einem Steinway.

2020, zum 250. Geburtstag von Beethoven, und mitten in der alltäglichen Berg- und Talfahrt der Pandemie hat Boris Giltburg damit begonnen, alle Sonaten mit dem Filmemacher Stewart French der „Fly On The Wall“ Productions auf Zelluloid zu bannen. Die besondere Machart bestand aus einer Kombination aus Live-Aufführung und Studioaufnahme. Jeder Satz bildet einen – einem live-Erlebnis ähnlichen – ungeschnittenen Take. Allerdings konnten von jedem Take mehrere Alternativen gedreht werden, wodurch der Pianisten die Möglichkeit hatte, sein Spiel nach Abhören der Bänder noch einmal nachzujustieren. Giltburg bezeichnet dieses Procedere als „andauernde Observation über die Entstehung und das Wachstum von Interpretationen, aber auch einen Diskurs über die Natur von Einspielungen im Allgemeinen.“

Die auf den neun CDs veröffentlichte Gesamtaufnahme aller Beethoven-Sonaten besteht aus einem rein akustischen Übertrag genau dieser Filme. Sie wurden ab dem späten Februar – mit Lockdown-bedingten Einschränkungen und allen technischen Komplikationen, die Streamings mit sich bringen – bis November über das Jahr 2020 verteilt auf einem Youtube-Channel zur Website https://beethoven32.com/ ausgestrahlt.

Die Sonaten wurden chronologisch in der Reihenfolge ihrer fast 30-jährigen Entstehung mit dem Anspruch aufgenommen, dass jedes Stück zum Zeitpunkt der Niederschrift den jeweils höchstmöglichen Entwicklungspunkt von Charakter und kompositorischer Meisterschaft darstellt. So wird auch deutlich, welche umwälzenden Wandlungen es in der Stilistik, der versuchslaborartigen Erfindungsgabe und der musikalischen Niemandslanderforschung bei Beethovens Klaviermusik gegeben hat. Fazit: Beethoven ist weit mehr als der stiersture, alternde grantige Grübler.

Boris Giltburg hat sein Projekt „Beethoven32“ auf Fazioli Klavieren verwirklicht, sei es in der Konzerthalle im norditalienischen Sacile oder bei Jacques Samuel Pianos in London. Die Klaviere sollen laut ihrem Erfinder Paolo (seit 1981 gibt es die Manufaktur) besonders dafür gut sein, dass alle Töne eines Akkords hörbar bleiben, die Klänge vor allem in der Mittellage lang anhalten und die Bässe satt klingen. Sie haben eine klare, glockenartige Präsenz und eine gleichmäßige Klanglinie.

Giltburg sieht sich bei der zeitlich doch wagemutig knapp bemessenen Erkundung der Beethoven Sonaten als Schatzsucher, Archäologe und Dechiffrierer Alter Sprachen. Er durchmisst die Spanne vom jugendlichen Überschwang bis zu jenen kosmisch entlegenen Territorien im Spätwerk, abgründig und unermesslich wie die menschliche Seele, mit demselben Gefühl der Isolation, das Beethoven seiner Taubheit wegen empfunden haben musste. Giltburg betont zum Entstehungsprozess, nicht zuletzt seinem Online Publikum für all die Fokussierung, die Strenge und natürlich die unterstützende Wärme dankbar zu sein.

Musikalisch gelingt Giltburg eine eigenmarkige Handschrift, die absolut einzigartig ist und an keine andere Lesart erinnert. Sie hat wenig mit Giltburgs Beethoven Interpretationen früherer Jahre zu tun. Giltburg gibt Beethoven mit den neuen Aufnahmen auf eine gewisse Art seinen Stallgeruch zurück. Er holt Beethoven vom Podest des Titanen, von einem salonidealistischen Nirwana ins Jetzt und Hier. Der Entzifferer hat so ganze Arbeit geleistet. „Sein Beethoven“ ist kreatürlich und ungeschminkt, in allen Gefühlslagen authentisch, er schmeckt kräftig gewürzt. Nüchternheit und Rausch wechseln einander schlagartig ab.

Folkloristisches wird nicht parfümiert, sondern bewusst simpel gehalten, Grobes auch so aufgetragen. Bravour und Tänzerisches, Narratives und verhangen Atmosphärisches, pure Schönheit und ungestümer Ausdruck, launische Explosionen und donnernde Leidenschaften, frischer Charme und bäuerlicher Humor, all das trägt Giltburg in unverfälschten und unabgemischten reinen Farben auf. Wiewohl sich des Pianisten Person in all ihren ureigensten, der Pandemie geschuldeten Umständen und Launen damit überlagern mag, Beethovens Sonaten erklingen hier niemals gesellschaftlich elitär gebunden mit überverfeinert ausgeklügelten Details, sondern als betriebsame Werkstatt mit dem beruhigenden Gefühl des nicht finalen, nicht endgültigen, in der gehobelt und geschnitten, gebohrt und geschweißt wird.

Bequem richtet Giltburg es nicht ein für den Hörer, zu sehr unterscheidet sich seine „lärmende Introspektion“ von allem, was ich kenne. Wir werden Zeuge von einer enormen Bandbreite in Dynamik und Tempi, die von abgeklärter Ruhe bis zu Momenten der vollkommenen Besessenheit reichen. Das Leben selbst in seiner unermesslichen Vielfalt dient als einzig gültiger Maßstab.

Rein technisch glückt dem begnadeten Musiker sowieso alles. Falls Sie also nach einer abwechslungsreich-originellen Beethoven-Interpretation Ausschau halten, die vor allem durch ihre am Horizont glühende Leuchtfarbe, durch eine faszinierend eigenständige Sichtweise bei aller pianistischen Bravour besticht, dann liegen Sie bei Boris Giltburg goldrichtig. Mit einer an Oberflächenglanz oder politischen Modeparolen orientierten Musikszene, in der Aufgeregtes via Twitter oder das Instragram-Foto des Tages die Hauptsache zu sein scheint, hat diese Kunst nichts am Hut.

Erstaunlich ist nicht zuletzt, dass das bei Booklets sonst so frugale Label Naxos seinem Star zugestanden hat, auf 65 Seiten (englisch/deutsch) seine ausführlichen, höchst lesenswerten, stets persönlichen Kommentare zu den einzelnen Sonaten abzudrucken. Die Texte, von Rainer Aschemeier sorgfältig ins Deutsche übertragen, gehören zum spannendsten und pädagogisch eingängigsten, was je über diese Stücke gesagt worden ist.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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