CD: LOUISE FARRENC: SYMPHONIES 1-3 • Insula Orchestra, Laurence Equilbey
«Eine Qualität, die im Paris der Mitte des 19. Jahrhunderts ihresgleichen sucht»
Louise Farrenc (1804-1875) ist im Paris des 19. Jahrhunderts eine grosse Ausnahmeerscheinung. Sie ist die erste Frau in Europa, die als voll titulierte Professorin über einen Zeitraum von 30 Jahren an einem Konservatorium unterrichtet und leistet zusammen mit ihrem Gatten Aristide (Heirat 1821) ein Pionierarbeit im Bereich der «Alten Musik». Vor allem aber widerlegt sie ihre Zeitgenossen, die behaupten Frauen könnten nicht komponieren: ihre Zeitgenossen waren sich über ihr ausserordentliches Talent für eine Frau einig (für die damalige Zeit ein ausgesprochen fortschrittlicher Standpunkt).
Entscheidend für Farrencs Entwicklung und Durchsetzungsvermögen war ihr persönliches Umfeld. 1804 wurde sie in eine prominente Künstlerfamilie, die Familie Dumont, die in der Künstlersiedlung an der Sorbonne lebte, hineingeboren. Skulpturen ihres Bruders Auguste stehen an der Place de Ia Concorde und der Place de Ia Vendôme. Louise Dumont genoss eine Erziehung, die es ihr ermöglichte, ihre Talente zu entdecken und auszubauen. Klavierunterricht erhielt Farrenc bei ihrer Patin und Pianistin Anne-Élisabeth-Cécile Soria, einer Schülerin Muzio Clementis (1752-1832). Ignaz Moscheles (1794-1870), Anton Reicha (1770-1836) und Johann Nepomuk Hummel (1778-1837) waren ihrer Lehrer in den Fächern Komposition, Musiktheorie und Instrumentation. So erschloss sich Farrenc eine hochinteressante Nische im sinfonischen Repertoire, die zwischen der französischen und der deutschen Einflusssphäre lag. So gibt es in ihrer Musik Mozartsche Verzierungen, italienisch inspirierte Virtuosität der Streicher und eine oft höchst innovative harmonische Sprache. Anfang der 1820er-Jahre erschienen erste Werke für Klavier im Verlage ihres Mannes und Louise Farrenc, Musiklehrerin im beim Herzog von Orleans, baute sich eine Karriere als Klavier-Virtuosin auf. 1842 wurde Farrenc auf eine Professur für Klavier am Pariser Konservatorium berufen. Nach langem Ringen erhielt sie sogar dasselbe Gehalt wie ihre männlichen Kollegen. In dieser Zeit begann sie sich dem klassisch-romantischen Stil zuzuwenden und «deutsche Gattungen» wie Kammermusik und Sinfonien zu komponieren. Lohnende Erfolge liessen sich nicht auf dem Konzert-Podium, sondern auf der Opernbühne erzielen. Mit dem Tod der Tochter Victorine 1859 endete Farrencs Karriere als Komponistin. Mit ihrem Mann Aristide wandte sie sich einem neuen Betätigungsfeld zu: der Erforschung, Aufführung und Edition älterer, zu ihrer Zeit kaum bekannter Klaviermusik. Zwischen 1861 und 1872 entstand der «Trésor des pianistes», eine 23 Bände umfassende Anthologie von Klaviermusik des 16. bis 19. Jahrhunderts. Der Trésor war die erste Anthologie dieser Art und wegweisend für die Wiederbelebung und quellentreue Edition. Louise Farrenc unterrichtete noch bis 1872 am Konservatorium und starb 1875 in Paris. «Farrencs Schaffen ist», so bringt es die französische Dirigentin Laurence Equilbey auf den Punkt, «von einer Inspiration und Qualität, die im Paris der Mitte des 19. Jahrhunderts ihresgleichen sucht».
Die Aufführungsgeschichte der Ersten Sinfonie op. 32 steht exemplarisch für die Schwierigkeiten im Paris der 1840er-Jahre eine Sinfonie zur Aufführung zu bringen. 1843 wandte sich Farrenc an François-Antoine Habeneck und Daniel-François-Esprit Auber um eine Aufführung der 1841 vollendeten Ersten Sinfonie durch die «Société des concerts du Conservatoire», das Orchester des Konservatoriums und damals einziges Orchester in fester Besetzung, das regelmässig Sinfoniekonzerte gab, zu erreichen. Eine Reaktion von Habeneck oder Auber ist nicht überliefert. Die Uraufführung erfolgte dann am 23. Februar 1845 am Konservatorium von Brüssel, vermittelt durch François-Joseph Fétis, Freund Farrencs und Direktor des dortigen Konservatoriums. Die Pariser Erstaufführung fand einige Monate später anlässlich eines Benefiz-Konzerts für die «Association des artistes musiciens» statt und wurde von der Presse ausserordentlich positiv besprochen. „Dieses interessante musikalische Ereignis hat Madame Farrenc als Komponistin etabliert, die die Fähigkeiten aller Frauen übertrifft, die Musik komponiert haben, und die mit unserem Geschlecht konkurriert. Sie ehrt das Land, in dem sie geboren wurde, mit diesem außergewöhnlichen Talent, das das Gefühl für die Melodie mit der Wissenschaft von den Klängen vereint“, zollte ihr der Kritiker Henri Blanchard Anerkennung.
Mit der Dritten Sinfonie gelang 1849, was mit der Ersten noch gescheitert war: Die Uraufführung im Rahmen eines regulären Abonnement-Konzerts der «Société des concerts du Conservatoire», beim wichtigsten Konzertveranstalter in Paris mit einem der renommiertesten Orchester Europas, «Société des concerts du Conservatoire».
Die beiden 1834 komponierten Konzertouvertüren op. 23 und 24 markieren den Wendepunkt in Louise Farrencs kompositorischer Entwicklung. Mit diesen Werken verließ sie den Bereich der Klaviermusik, mit der sie ihre kompositorische Laufbahn begonnen hatte, und löste sich zugleich von der Anpassung an das sie umgebende Musikleben in Paris und wandte sich einer jungen und noch dazu aus Deutschland stammenden Gattung zu.
Das auf Instrumenten der Zeit spielende Insula Orchestra unter Laurence Equilbey folgt den Intentionen seiner Gründerin hochkonzentriert und setzt, was gesagt wurde, in Klang um.
Eine interessante Entdeckung und wahres Vergnügen!
01.05.2023, Jan Krobot/Zürich