CD LISE DAVIDSEN singt BEETHOVEN, WAGNER und VERDI; DECCA
Das für viele Sänger verflixte zweite Album ist der Lise Davidsen beeindruckend geraten. Ließ das erste 2018 aufgenommene Album mit Musik von Wagner und Strauss schon die stimmlichen Urgewalten der Lise Davidsen erahnen, so ist die junge norwegische Spinto-Sopranistin jetzt auch sicher in ihrem Fach angekommen. Nicht unspannend ist, dass die neue Davidsen-CD vom Programm her dem ersten Recital von Gwyneth Jones aus dem Jahr 1966 ähnelt. Auch Gwyneth Jones hat damals für ihre mit dem „Vienna Opera Orchestra“ unter Argeo Quadri aufgenommene Platte „Ah Perfido“ und „Fidelio“ von Beethoven, Cherubinis „Medea“ und Verdis „La forza del destino“ gewählt.
Wie die Waliserin Gwyneth Jones kann Lise Davidsen bei ihrer Erkundung der (Opern)Welten von Beethoven, Cherubini, Mascagni, Verdi und Wagner auf eine breite luxuriöse Mittellage und vulkaneruptive Höhen zählen. Wie die überaus verehrte Dame Jones unterliegt aber auch Lise Davidsen bei Beethoven bisweilen hörbar der Versuchung (später kann da eine Gefahr für Linienführung und Ruhe der Stimme daraus werden) ihr enormes Jahrhundert-Material nicht gehörig unter Kontrolle zu halten. Ja solange die jungen Rösser scharren, könnte man sagen, durchgehen sollten sie allerdings nicht.
Lise Davidsen scheint mit dem Beethoven-Einstieg nicht nur dem Jubilar huldigen, sondern auch einen Repertoireausblick geben zu wollen. Das Debüt als Leonore an der Covent Garden Opera war schon eine große Sache. Jetzt kann der Hörer nachvollziehen, dass Davidsen diese Partie vielleicht (wie Mödl und Jones vor ihr) zum Signum ihres Stammrepertoires wählen wird. Natürlich gelingt Davidsen in dieser jungen Phase ihrer Karriere auch der berühmt gefürchtete Aufstieg zur „Gattenliebe“ am Ende der Arie spielerisch und mit frei flutender Tongebung. Das ist selbst Birgit Nilsson in der Partie nicht immer geglückt.
Meine beiden Lieblingsstücke der CD sind „Pace, pace mio Dio“ aus „La forza del destino“ und das „Ave Maria“ der Desdemona aus Verdis „Otello“. Hier singt Lise Davidsen ganz auf große Linie bedacht, ihr wie ein breiter Fluss ruhig-königliches Legato reißt den Stimmenliebhaber hin und weg, die noblen Piani sitzen nicht nur gesangstechnisch sicher, sondern auch vom Ausdruck her perfekt. Hoffentlich bekommen wir noch sehr sehr viel Verdi von Davidsen zu hören. Die Stimme ist bei bewusster Zügelung der Stimmmassen prädestiniert für das schwere italienische Fach.
Als Abschluss des Albums hat sich Davidsen die „Wesendonck-Lieder“ von Richard Wagner als Vorgeschmack auf ihre Isolde gewählt. Es ist auch schon viel über das Timbre von Lise Davidsen geschrieben worden. Der immer wieder bemühte Flagstad-Vergleich ist zumindest bei Wagners Orchesterliedern durchaus zutreffend, mir fällt aber auch Jessye Norman als historische Bezugsgröße ein.
Das neue Album der Lise Davidsen scheint wie aus einer anderen, längst verschwundenen Opernzeit zu kommen. In einer Zeit, wo echte dramatische, in Tiefe, Mittellage und exponierter Höhe gleichermaßen endlos robuste Soprane zur raresten Opernspezies überhaupt zählen, kann sich der Hörer einmal ausgiebig in berauschenden Stimmfluten baden. Der Aufnahmetechnik ist es gelungen, diese Riesenstimme naturgetreu und ohne unnötige Beschneidung der Frequenzen in den Höhen abzubilden.
Tipp: Sollte sich am 27. Juli der Vorhang über Tobias Kratzers Bayreuther „Tannhäuser“- Inszenierung heben, wird Lise Davidsen als Elisabeth auf der fränkischen Festspielhaus-Bühne stehen. Zwei Tage später soll sie dort Sieglinde in „Die Walküre“ sein.
Dr. Ingobert Waltenberger