CD LILI & NADIA BOULANGER: MÉLODIES – CYRILLE DUBOIS; Tristan Raës ; aparte music
Zwei herausragende Komponistinnen, lyrische Meisterlieder in der Nachfolge Claude Debussys und Gabriel Faurés
Lili (eigentlich Julie-Marie Olga) und Nadia Boulanger entstammen einer musikalischen Pariser Familie. Lili litt schon als Zweijährige an einer Lungenentzündung, erholte sich davon nie wirklich und starb mit nur 25 Jahren an Tuberkulose. Sie war die erste Frau, die mit der Kantate “Faust et Hélène” den 1803 gegründeten “Concours du Prix de Rome” gewann. Das erlaubte ihr, einen Exklusivvertrag als Komponistin mit dem italienischen Verleger Ricordi zu unterzeichnen. 1914 kam sie nach einem kurzen Intermezzo an der Villa Médicis in Rom nach Nizza, wo vorübergehend die Académie de France untergebracht war. Sie schrieb Mélodies, Psalmen, Instrumentalmusik sowie das “Pie Jesu” für Gesang, Orgel, Streichquartett und Harfe. Viel Zeit hatte sie nicht dafür, viel zu rasch endete das Leben dieses so kurz strahlenden musikalischen Sterns.
Die ältere Schwester Nadia hat mehr Glück im Leben. Ab dem 10. Lebensjahr studiert sie am Pariser Konservatorium bei Vidal, Widor, Vierne und Fauré. Mit Raoul Pugno verbindet sie eine intensive künstlerische Partnerschaft bis zu dessen Tod im Jahr 1914. 1912 schreibt sie für diesen Pianisten die “Fantaisie varietée pour piano et orchestre”, gemeinsam realisieren sie den Liedzyklus “Les Heures Claires” und die Oper “La Ville morte” auf ein Libretto von d’Annunzio.
Auf ihrer neuen CD interpretieren der französische Tenor Cyrille Dubois und sein langjähriger Begleiter am Flügel Tristan Raës die “Quatre Chants” von Lili und danach “Les Heures Claires”, einen Zyklus von acht Liedern von Nadia Boulanger & Raoul Pugno. Das Album startet mit “neun Liedern” der Nadia Boulanger. Das Duo Dubois und Raës verbindet mit den beiden Schwestern Boulager auch die ganz persönliche Erinnerung, dass sie vor zehn Jahren den gleichnamigen Wettbewerb gewonnen hatten. Alle zwei Jahre findet dieser Duo-Wettbewerb für Gesang und Klavier zur Pflege der Werke v. Nadia u. Lili Boulanger statt.
Die auf dem Album zu hörenden Mélodies auf Texte u.a. von Henry Bataille, Armand Silvestre, Albert Samain, Paul Verlaine, Maurice Maeterlinck und Emile Verhaeren eröffnen den Blick auf einen blühenden und doch verwunschenen musikalischen Garten. Die Lieder fesseln in ihrer subtil melancholischen Introspektion, ihrer emotional nervösen Dringlichkeit, mit all den chromatischen Ketten, repetitiv oszillierenden Noten und in all ihrer harmonisch dahin gepinselten Vielfalt.
Cyrille Dubois hat schon mit der Liszt-Lieder CD “O lieb!” sein immenses Talent samt der seltenen Gabe, vertonte Poesie mit allen stimmlichen Möglichkeiten tausendfach nuanciert in unverwechselbare funkelnde Edelsteine zu wandeln, unter Beweis gestellt. Auf diesem schon wegen der Schönheit und Tiefe der Musik sowie der Seltenheit des zu hörenden Repertoires so wichtigen Album erweist sich Dubois als ein vollkommener Liedsänger. Mit seinem technisch ausgereiften, hell timbrierten Tenor stürzt er sich in die vibrierenden Seelenwelten der Schwestern voller Energie und stilistischer Treffsicherheit. Trotz aller Intensität des Vortrags bleibt jedes Wort verständlich. “La Mer” oder “Le Retour” (Tracks 9 und 13) sind zwei Beispiele kultiviertesten vokalen Raffinements.
Das Album wurde in Kooperation mit dem Centre de Musique Romantique Francaise im Palazzo Bru Zane in Venedig im März 2018 aufgenommen. Für Liebhaber vokaler Kostbarkeiten, Entdeckungsfreudige raren Repertoires mit Neugierige auf das kompositorische Schaffen zweier außerordentlicher Frauen im frühen 20. Jahrhundert unverzichtbar.
Dr. Ingobert Waltenberger