CD „LES inATTENDUS – Poetical Humors“ Vincent Lhermet Akkordeon, Marianne Muller Viola da Gamba; harmonia mundi
Manchmal klappt es ja, wenn sich zwei in lebhafter Neugier zusammentun, um Alte Musik und Zeitgenössisches wie auf dem neuen Album „Poetische Launen“ mit den Basstönen der Viola und dem mini-orgelartigen Akkordeonsound neu zu erkunden. Gefunkt hat es während einer internationalen Sommerakademie 2015 in Nizza, wo Marianne Muller und Vincent Lhermet sich kennenlernten und die Möglichkeiten des Zusammenspiels einer historischen Viola da Gamba und eines neuen Akkordeons ausloteten. Besonders fasziniert waren beide von der Magie der englischen Renaissancemusik. Tobias Hume, John Dowland, John Bull und Orlando Gibbons sind folgerichtig die ‚elisabethanischen‘ Komponisten, deren Werke im Album in neuer Klangfantasie zu hören sind, gewürzt durch zwei Weltersteinspielungen zeitgenössischer Titel von Thierry Tidrow und Philippe Hersant.
Subtile dynamische Abstufungen, komplexe kontrapunktische Netze sowie introspektive Klänge charakterisieren die überwiegend von Verlust, Sehnsüchten und einer insgesamt melancholischen Grundstimmung getragenen, feinen Stücke. Das Akkordeon kann Freude und Schmerz gleichermaßen ausdrücken, die Viola mit ihren Doppelgriffen und einer ausgefeilten Bogentechnik überkreuzende Töne gleichzeitig spielen. Tanz und Nachdenklichkeit legen den Ursprung dieser polyphonen Musik, die rein instrumental gedacht oder auch für die menschliche Stimme geschrieben wurden. Bei den ‚Songs‘ (ohne Worten) übernimmt die Viola da Gamba den Vokalpart. Die herausragende Solistin Marianne Muller bringt all ihren Erfahrungsschatz ein, damit Titel wie „What greater grief“ von Tobias Hume oder „In darkness let me dwell“ von John Dowland frei atmen können. Sie bringt das Kunststück zustande, dass der Wortrhythmus in Einklang mit der harmonischen Entwicklung steht und der erzählerische Fluss aufrecht bleibt.
Das Duo betont, dass aufgrund der beiden Tastaturen des Akkordeons in Verbindung mit der Viola ein Trio an Stimmen erstehen kann. Das zeigt sich eindrücklich etwa in Gibbons „Fantasia“, wo die drei sehr klaren unabhängigen kontrapunktischen Linien sauber wiedergegeben werden. Die beiden Stars der Aufnahmen sind aber auch jeweils mit solistischen Nummern vertreten: Marianne Muller mit „Captain Humes Pavan“ (Tobias Hume) und Vincent Lhermet mit „Goodnighte“ und „Myself“ (John Bull).
Da es in der Alten Musik natürlich keine Stücke für Akkordeon und Viola da Gamba gibt, liegt das zweite Standbein von „Les inAttendus“ im Aufbau einer entsprechenden Literatur in Zusammenarbeit mit interessierten zeitgenössischen Komponisten. So begann Thierry Tidrow seine musikalische Laufbahn ebenfalls als Violaspieler und Countertenor, bevor er sich mit Komposition auseinandersetzte. Ihn interessieren besonders Schreibweisen jenseits der traditionellen Behandlung von Viola und Akkordeon, aber ebenso die Zwischenbereiche, wo der Klang der beiden Instrumente sich annähert und beinahe ununterscheidbar wird. Absolut faszinierend und wohl nicht nur mein persönliches Lieblingsstück sondern auch der positiv irritierendste Track auf dem Album.
Interessant ist wie Marianne Muller den Begriff ‚Authentizität‘ in der Musik sieht: Als Ergebnis eines tiefen Verständnisses der Musik mittels Erforschung der Absichten eines Komponisten mit einer äußersten Aufrichtigkeit der Aufführenden. So kommt sie zum Schluss, dass die Interpretationen auf der CD von einem leicht zeitgenössischen Akzent durchflutet sind.
Wie auch immer: Das Album ist sicherlich so etwas wie ‚slow food‘ für die Ohren, wo manchmal die Zeit stehenzubleiben scheint. Die Musik wirkt streckenweise meditativ, der aufmerksame Hörer kann sich aber auch an der ungewöhnlichen Klangkombination und an den ineinander verflochtenen Linien, wo jeweils abwechselnd das eine, dann das andere Instrument die thematische Führung übernehmen, erfreuen.
Dr. Ingobert Waltenberger