CD LEOS JANACEK: KATJA KABANOVA – mit AMANDA MAJESKI, SIMON O’NEILL und KATARINA DALAYMAN, SIR SIMON RATTLE dirigiert das LSO
Live-Aufnahme vom 11. und 13.1.2023 aus der Barbican Hall London
„Ich habe keine größere Liebe erlebt als mit ihr. Ich widme das Werk ihr. Blumen, verneigt euch vor ihr. Vögel, hört nie auf, euer Lied von ewiger Liebe zu singen.“ Janacek, Februar 1928 (Partiturwidmung)
Janaceks späte Oper auf ein eigenes Libretto nach dem Drama „Das Gewitter“ des Russen Alexander Ostrovski thematisiert den tragisch endenden Ausbruchsversuch der Katja aus gesellschaftlicher Starre und Engherzigkeit. Das Musikdrama entpuppt sich als eine archaische Zeremonie der Schicksalsgläubigkeit. Als Boris Katja verlässt, stürzt sie sich in die Wolga und ertrinkt.
Emotionaler und biografischer Hintergrund der Oper ist Janaceks Liebe zur verheirateten, 35 Jahre jüngeren Kamila Stösslova. Janacek gelingen in satter Nährung romantischer Imagination Szenen von unglaublicher Zärtlichkeit und dramaturgischer Dringlichkeit. Grosso modo haben wir es mit der „subtilsten Analyse menschlicher Schwächen, üblicher Gewohnheiten, einer alles verstehenden und bloß legenden Fallstudie, einem Schaustück von unvermeidlicher Vermeidbarkeit“ (Christoph Schlüren) zu tun. Die Natur fungiert als Trösterin und Bedrohung zugleich. Hart prallen lyrische Verinnerlichung, Sehnsucht nach Zuwendung und befreiender Sexualität, die Optionen von Neustart versus eherne Konvention auf die harte dörfliche Realität.
Sir Simon Rattle gelingt nach „Das schlaue Füchslein“ (2018/2019) mit dieser Einspielung erneut der ganz große Wurf. Ist hier ein neuer Janacek-Zyklus nach dem Vorbild von Charles Mackerras und den Wiener Philharmonikern (DECCA) im Entstehen? Zu wünschen wäre es. In einem Interview im Tagesspiegel aus dem Jahr 2014 vor der Berliner Premiere von „Katja Kabanova“ im Schillertheater gestand der Dirigent seine Begeisterung für Mackerras‘ Janacek-Interpretationen und schwärmte von der außerordentlichen Orchestrierung der Oper. Mit Mackerras habe er sich einen ganzen Tag über die Partitur von „Die Sache Makropoulos“ ausgetauscht.
Rattles treffsichere Gabe, Janaceks auf dem Tschechischen basierende komplexe Rhythmen, die instrumentalen Finessen und das Timing der Partitur psychologisch auszuloten, prädestinieren ihn geradezu zu der Fortführung seiner atemberaubenden Janacek-Initiative mit dem alle mährischen Stückeln spielenden London Symphony Orchestra.
In der Berliner Philharmonie habe ich vor Jahren eine von Rattle geleitete konzertante „Jenufa“ mit den Berliner Philharmonikern, Karita Mattila in der Hauptrolle und Deborah Polaski als Küsterin gehört. Ein musikalischer Traum auf der Höhe der Jenufa-Aufführungen, die ich in Wien unter der musikalischen Leitung von Václav Neumann erleben durfte. Rattle schafft es, trotz der fürchterlich düsteren Grundkonflikte von „Jenufa“ oder „Katja“, das Lyrische (etwa den Vollmond in Katja) besonders hell leuchten zu lassen, die volkstümliche Poesie der Musik in einem Kaleidoskop an tausendfachen Ausdrucksnuancen, dynamischer Feinzeichnung und atmosphärisch eindringlichen Naturbildern kreisen zu lassen.
Wir dürfen davon ausgehen, dass Rattle von seiner Ehefrau Magdalena Kožená für Katja Kabanova sprachlich gebrieft worden ist. In der Aufführung singt sie mit ihrem warm timbrierten Mezzo als echte Luxusbesetzung die kleine Rolle der Varvara, Pflegetochter im Hause Kabanov. Ihr Entschluss, mit dem Lehrer Vána Kudrjás (mit jugendlich schwärmerischem Tenor Ladislav Elgr) in Moskau ein neues Leben zu beginnen, markiert die hoffnungsfrohe Seite der Oper.
Den Mittel- und Glanzpunkt der Besetzung stellt die amerikanische Sopranistin Amanda Majeski als Katja dar. Der erregten Sprachmelodie verleiht ihr in verhangener Melancholie jubelnder Sopran menschlich, allzu menschliches Gepräge. Ambivalent sind ihre Gefühle zu den sie umgebenden feigen Männern, zur perversen Eifersucht der Schwiegermutter. Alle Protagonisten leben ihre eigene Wirklichkeit, sie können nicht aus ihrer Haut heraus, was die Begriffe von Gut und Böse unendlich relativiert und die Oper so unglaublich modern wirken lässt. Janacek wertet die Personen seines Stücks nicht in und mit seiner Musik, sondern unterlegt den kurzmotivisch ariosen Sprechgesang mit längeren Abschnitten instrumental melodischer Ergriffenheit, kleidet das Paradoxon menschlicher Seelendispositionen in spannend geschichtete motivische und rhythmische Überlagerungen.
Des akoholsüchtigen Muttersöhnchens, Katjas Gatten Tichon Ivanytch Kabanovs Schwanken und Lavieren, wird von Andrew Staples mit hellem Tenor vokal eindringlich nachvollzogen. Simon O’Neill hält für Katjas Lover Boris, Neffe des Kaufmanns Dikoj (Pavlo Hunka mit kalt-profundem Bass), die gut geschüttelte Balance aus erregender Männlichkeit und gesellschaftlicher Befangenheit, Verheißung und Ernüchterung, Schein und Sein, mit softer Mittellage und strahlenden Heldentenorhöhen bereit.
Als herrschsüchtig-sadistische Kabanicha wurde die einst Wagner-hochdramatische Schwedin Katarina Dalayman ins Rennen geschickt. Die fraulich breite Mittellage und die wuchtigen Höhen können zwar den einen oder anderen Keifton nicht kaschieren, machen aber glaubhaft, dass wir es hier mit keinem Monster, sondern einer emotional bedürftigen Vollstreckerin gesellschaftlicher und religiöser Normen zu tun haben. Faszinierend.
Fazit: Die beste und ergreifendste aller derzeit erhältlichen Aufnahmen der Oper.
Dr. Ingobert Waltenberger