CD LEOS JANACEK GLAGOLITISCHE MESSE, SINFONIETTA – MARKO LETONJA dirigiert das Orchestre philharmonique de Strasbourg und den tschechischen philharmonischen Chor Brünn; Warner Classics
Altkirchenslawische Zwiesprache mit Gott – Mährische Bitte um Frieden versus Militär-Sinfonietta
Veröffentlichung: 22.4.2022
Die Glagolitische Messe, nach der kalligraphischen Schrift des Kirchenslawischen benannt, baut auf Fragmenten einer Missa brevis für Chor und Orgel auf, die Janacek bereits 1907/08 skizziert hatte. In der ‚endgültigen‘, dieser Aufnahme zugrunde liegenden Originalfassung aus dem Jahr 1927 in der kritischen Edition des Jiri Zahradka von 2011 wird erst der avantgardistische Duktus der Messe in all ihren Extremen erfahrbar. Der winzige Mensch, allen rauen unermesslichen Naturgewalten ausgesetzt und mit seinen eigenen ebenso unermesslichen Unzulänglichkeiten konfrontiert, tritt einem gewaltigen, allen Dingen und Erscheinungen innewohnenden Gott entgegen.
Das so Besondere des seltsam schönen Chorwerks unter Beteiligung von vier Solisten bildet nicht primär die vom Lateinischen abweichende Sprache, sondern die Einrahmung mit ungestüm virtuosen Orchesterstücken (Intrada 1 und 2), der Einschub eines Orgelsolos als achten Satz sowie die wahrlich apokalyptische Atmosphäre mit Donner und Blitz (Pauken und Orgel) im Kruzifixus.
Der slowenische Dirigent und Suitner-Schüler Marko Letonja betont in seiner Interpretation der gigantischen Mess-Partitur mit ihren archaischen Lobpreisungen und operndramatischen bis intimen Bittgesängen des modernen Menschen das Schroffe sowie das kosmisch Unerbittliche in der so fragilen Begegnung mit einem unberechenbaren Schöpfer.
Letonja spornt das Orchestre philharmonique de Strasbourg, das er 2012 bis zum Sommer 2021 als Chefdirigent leitete, zu wahren Höhenflügen an. Letonja ist trotz seiner schon 30-jährigen Karriere noch immer ein Geheimtipp. Spätestens mit dieser Einspielung aber schreibt dieser außergewöhnliche Musiker, der mit dem Sinfonieorchester Basel die Gesamtaufnahme aller Sinfonien von Felix Weingartner für cpo aufgenommen hat und für Warner auch das aufsehenerregende Recital des Michael Spyres mit dem Titel „BariTenor“ künstlerisch erstklassig gestaltete, Plattengeschichte. Nicht unwesentlichen Anteil am referentiellen Gelingen des Albums hat der epochal brillante französische Organist Johann Vexo auf den Instrumenten von Joseph Merklin, Nicolas Toussaint und Quentin Bluemenroder/Bernhard Hurvy sowie der Chor aus Brünn. Im Solistenquartett haben eindeutig die Damen die „Nase vorne“. Malin Byström (Sopran) und vor allem Jennifer Johnston (Alt) sind ohrenschmeichelnde Luxusbesetzungen, während Ladislav Elgr (Tenor) mit einer steif unkultivierten oberen Lage überfordert klingt. Adam Plachetka (Bass-Bariton) geht seinen Solopart mit opernhafter Geste an.
Die „Sinfonietta“ mit ihrer berühmten Fanfare in Des-Dur greift auf eine ungewöhnlich große Bläserbesetzung zurück: 4 Hörner, 9 Trompeten in C, 3 Trompeten in F, 2 Basstrompeten in B, 4 Posaunen; 2 Tenortuben in B und Basstuba. Das patriotisch bis nationalistisch angehauchte Stück mit den Satztitel Fanfaren, Burg, das Königin-Kloster, Straße zur Burg und Brünner Rathaus hat Janacek letztendlich doch nicht dem Militär, sondern der englischen Musikautorin Rosa Newmarch gewidmet. Marko Letonja erweist sich in diesem häufig gespielten und oft aufgenommenen Paradestück als jede Proportion und klangliche Gewichtung neu reflektierender, knusprige Akzente bevorzugender Dirigent. Großartig.
Dr. Ingobert Waltenberger