CD LEOS JANACEK: DIE AUSFLÜGE DES HERRN BROUCEK; Supraphon
Neueinspielung mit dem Orchester des Nationaltheaters Prag unter Jaroslav Kyzlink
In der nächsten Spielzeit, im März 2025, wird es eine Neuinszenierung dieser „surrealen Oper im Dreivierteltakt“ an der Berliner Staatsoper Unter den Linden geben. Simon Rattle wird dirigieren, Robert Carsen wird Regie führen. Als Vorgeschmack auf Kommendes oder einfach zum Kennenlernen bzw. Wiederhören ist eine neue vorzügliche Einspielung des tschechischen Labels Supraphon aus dem Prager Rudolfinum (aufgenommen 2020/2021) ausdrücklich zu empfehlen.
Es handelt sich um die dritte Einspielung im Supraphon-Katalog. Ich schätze auch die im Rahmen der Reihe „Czech Opera Treasures“ erschienene Aufnahme aus dem Jahr 1980 unter Frantisek Jilek mit Pribyl, Svejda, Marsik und Jonasova, aber die neue ist atmosphärisch noch eindringlicher und orchestral effektvoller. Die älteste nach wie vor erhältliche Einspielung aus Prag, allerdings in einer leicht gekürzten Version, stammt aus dem Jahr 1963. Damals dirigierte Vaclav Neumann, Bohumir Vich, Ivo Zidek, Premysl Koci, Karel Berman und Libuse Domaninska sangen die Hauptrollen.
Bei dieser aus der mjttleren Periode stammenden Oper Janaceks – die Uraufführung fand am 23. März 1920 im Nationaltheater Prag in einer Inszenierung von Otakar Ostrcil statt – handelt es sich um Janaceks einzige komische Oper mit einem satirischen, menschliche Schwächen auf die Schaufel nehmenden Hintergrund. Das Libretto folgt den satirischen Romanen „Der Ausflug des Herrn Broučeks zum Mond“ und „Der Ausflug des Herrn Brouček ins fünfzehnte Jahrhundert“ von Svatopluk Čech.
Ganz gleich, wohin sich der Kleinbürger Broucek hin imaginiert, wirklich los ist dieser sich die Bequemlichkeit des Daseins auf die Fahnen geheftet habende Prager Hausherr seine Sorgen nirgends. Rückständige Mieten einzutreiben, zählt jedenfalls nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Ein echter Phäake ist dieser Broucek. Am liebsten isst oder trinkt er ausgiebig in seiner Stammkneipe Vikarka neben dem Veitsdom auf der Prager Burg. Mit zuviel Bier im Bauch eingeschlafen, träumt er von zwei tollkühn-surrealen Reisen. Die eine wirft ihn auf den Mond, wo er den Leuten aus dem Wirtshaus unter den Namen Etherea, Mondkristan und Sternenfried wieder begegnet. Da prallt sein grober, materieller Charakter auf sensible bis abgehobene Künstlernaturen. Die andere führt ihn im zeitlichen Rückwärtsgang ins mittelalterliche Prag 1420. Da erweist sich Broucek, zwischen zwei feindliche Religionslager geraten, als feiger Opportunist. Er verrät die Hussiten, als Folge wollen sie ihn in ein Fass gesperrt, dem Feuertod preisgeben. Wieder vom Rausch erwacht, behauptet der Flunkerer, er hätte die Kreuzritter geschlagen und versucht, Prag zu befreien.
Janacek selbst bezeichnete das doppelbödige Werk als burleske Fantasie. Wenig ist von den veristischen Ansätzen samt zahlreichen Folkloreanleihen der 16 Jahre zuvor uraufgeführten „Jenufa“ zu merken, dafür treibt der Komponist die Leitmotivtechnik mit ihren wiederkehrenden Motiven auf die Spitze. Rein musikalisch begegnen wir im „Broucek“ dem für Janacek so typischen, an der Sprache orientierten Deklamationston. Dazu versuchte er, und das ist einmalig in seinem musiktheatralischen Schaffen, mittels variierten Walzerklängen -stilistisch ähnlich dem „Rosenkavalier“ – symbolisch das überkandidelt Närrische, das sich berauschte Drehen des Broucek, im Universum der Mondlinge ironischerweise den Ausdruck höchsten Künstlertums einzufangen. Die Oper ist vor allem in den ersten beiden Akten von vielen kleinen und kleinsten Szenen, manche expressiv komisch, manche romantisch intim, dominiert. Janacek oszilliert temporeich zwischen diesen so kontrastreich charakterisierten Genres. Er überblendet Realität mit Fantasie, beruft sich des Öfteren in parallel laufenden, fragmentierten Dialogen auf simultan laufende Erzählebenen. Die Klammer zwischen Prager Burg, Mond, Mittelalter erzielt Janacek durch gleichbleibende, in verschiedene Rollen schlüpfende Figuren, die an allen drei Orten auftreten.
Die Instrumentierung ist überaus üppig angelegt, außer den Streichern hören wir Piccoloflöte, Flöten, Oboen, Englischhorn, Klarinette, Bassklarinette, Fagotte, Kontrafagott, Hörner, Trompeten, Posaunen, Tuba, Pauken, große Trommel, Becken, Tamtam, Triangel, Glockenspiel, Xylophon, Harfe, Celesta und Dudelsack. Jaroslav Kyzlink lässt das fabelhafte Orchester des Prager Nationaltheaters höchst expressiv, in artikulatorischer Akkuratesse aufspielen. Er setzt scharfe Akzente und präsentiert die rhythmische Vielfalt der Partitur in bestechender Präzision. Kyzlink, seit 2012 Musikdirektor des Nationaltheaters in Prag, weiß aber auch der romantischen Schwärmerei Glanz und den Walzern Schwung zu verleihen.
Vom Klasseensemble bis in die kleinsten Rollen (Aleš Briscein, František Zahradníček, Alžběta Poláčková, Jiří Sulženko, Roman Janál, Jiří Brückler) ist besonders der höhensichere, hell timbrierte Tenor Jaroslav Březina als Matej Broucek hervorzuheben. Eine Meisterleistung an nuancierter Rollengestaltung, die ihren Höhepunkt im großen Monolog im zweiten „Pomóc! Pomóc!“Teil findet.
Fazit: Eine einzigartige Oper, die Konzentration erfordert und am besten mit dem Libretto in der Hand gehört werden sollte. Wer sich darauf einlässt, wird gerade mit dieser Einspielung (als Gesamtensembleleistung und orchestral die beste und brillanteste, die ich kenne), glücklich werden. Auch tontechnisch bleibt kein Wunsch offen.
Dr. Ingobert Waltenberger