CD LEBENSSTÜRME: Eine würdige postmoderne Hommage an Franz Schubert von Heinz Winbeck
Von Manfred A. Schmid
Titelgebend für Heinz Winbecks musikalische Auseinandersetzung mit Franz Schubert – richtiger wäre: für seine Zusammensetzung mit Franz Schubert – ist der monumentale Sonatensatz Allegro in A Moll D 947 für vierhändiges Klavier. Das wuchtig hämmernde, stürmisch anhebende Allegro, erst 1840, lange nach Schuberts Tod 1828, von Anton Diabelli unter dem von ihm gewählten Namen „Lebensstürme“ verlegt, schreit förmlich nach einem Orchester. Es war Robert Schumann, der dies als erster erkannt hat. „Wer so viel schreibt wie Schubert, macht mit Titeln am Ende nicht viel Federlesens, und so überschreibt er sein Werk am Ende vielleicht Sonate, während es als Sinfonie in seinem Kopfe fertig stand… ich kann es mir nur als Orchesterstück auslegen. Man hört Saiten- und Blasinstrumente, Tutti, einzelne Soli, Paukenwirbel…“
Heinz Winbeck hat diese Wunschvorstellung Schumanns erfüllt, das Klavierstück zu vier Händen orchestriert und durch Schubertlieder, das Klavierstück Rondeau brillant D 823 sowie einige Tänze ergänzt, allesamt „in neuer und ziemlich ungewöhnlicher Instrumentierung“ (Winbeck) orchestriert. Das Ergebnis nennt er im Untertitel scherzhaft ein „Quodlibet mit und zur Musik von Franz Schubert“, obwohl es in Wahrheit meilenweit davon entfernt ist. Denn in allen Stücken, auch in den Tänzen, tun sich, wie bei Schubert üblich, zerklüftete Seelenlandschaften auf, voller Nebel und Regenschleier, mit darüber bedrohlich hinwegziehenden Gewitterwolken, durch die – nur selten und stets zu kurz – Hoffnung verkündende Sonnenstrahlen hindurchschimmern, die sich dann in der Regel als trügerisch erweisen. Was die Stücke vereint, ist zudem der pochende, vorwärtsstrebende Rhythmus, der aber immer wieder auch Platz für kontemplatives Innehalten bietet, was es Winbeck ermöglicht, sein in dieser Komposition gesetztes Ziel zu erreichen: „eine Art Quintessenz der schubertschen Melodik und Harmonik zu destillieren, einen Trunk, der ruhig etwas berauschen darf, bevor der Becher über die gefährlich scharfen Klippen geworfen wird.“ Winbecks Orchestrierung der Schubertlieder schließt nahtlos an die lange Reihe von Werken an, in denen sich Komponisten späterer Generationen, beginnend mit Liszt, Schumann, Brahms und Bruckner, über Mahler, Reger und Anton von Weber bis hin zu Krenek, Berio und Zender, mit Schubert befasst und ihn zum Ausganspunkt so mancher Werke genommen haben. Die Gesangsstimme in den ausgewählten Liedern „Im Abendroth“ (Oh wie schön ist die Welt I & II), „Sehnsucht“ (Die Scheibe friert, der Wind ist rauh), „An mein Herz“ (O Herz, sei endlich stille), „Waldesnacht“ (Windes Rauschen) und „Herbst“ (Es rauschen die Winde so herbstlich und kalt) bleibt unangetastet. Die Instrumentationen variieren, das Klavier ist aber immer dabei. In den orchestralen Zwischenspielen finden sich, neben den tonangebenden, schon genannten Klavierwerken noch Verweise auf weitere Melodien Schuberts. Von gewaltig erschütternder Kraft ist die nach dem ruhevoll-innigen Eingangslied urplötzlich in voller fff-Lautstärke hereinbrechende „Fuge“ über ein Thema aus dem Finale des Streichquartetts Der Tod und das Mädchen. Ein frühes memento mori, aber auch eine Erinnerung an Schuberts in seinem letzten Lebensjahr geäußerten Wunsch, die Kunst der Fuge zu studieren.
Heinz Winbeck (1946-2019) war ein deutscher Komponist, der nur wenige Werke hinterlassen hat, weil ihm offenbar seine Berufung als Professor für Komposition an der Hochschule für Musik in Würzburg und die Arbeit mit seinen Schülern sehr wichtig war, wohl aber auch, weil er, wie er es selbst einmal ausdrückte, „nur das zu Papier brachte, das, würde ich es nicht tun, mich zersprengen würde“. Die letzte seiner insgesamt fünf Sinfonien, „Jetzt und in der Stunde des Todes“, mit Skizzen zur 9. Sinfonie Anton Bruckners, wurde 2010 vom Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Dennis Russell Davies im Stift St. Florian uraufgeführt. Mit dem Landestheater Linz verband den in Bayern lebenden Winbeck seitdem eine enge Zusammenarbeit, die zunächst zu einem Ballett auf der Grundlage von fünf von ihm orchestrierten Liedern aus Schuberts Winterreise führte und dann in der Komposition Lebensstürme gipfelte. Die 2024 im Label Sonus Eterna erschienene Aufnahme wurde 2012 in der Musikhalle im Casino Basel aufgenommen und 2023 remastered. Dennis Russell Davies dirigiert das Basel Sinfonieorchester. Solisten sind Maki Namekawa am Klavier und der österreichische Bariton Martin Achrainer.
Seine reiche Erfahrung als Liedersänger kommt Achrainer bei der Interpretation der Schubertlieder, die zur dunklen Gestimmtheit der Winterreise zwar hinführen, aber noch um einiges heller und lebensbejahender sind, herrlich zu Gute. Fein nuanciert beginnt er seine Rezitation mit inniger Ruhe, steigert seine Gestaltungskunst in den gefühlsbetonten Passagen bis hin zu dramatischen Ausbrüchen und findet dann wieder in die Gelassenheit und Klarheit beim Erleben der sich stetig wandelnden Natur zurück. Höchst erfreulich ist dabei seine exzellenter Wortdeutlichkeit.
Maki Namekawa am Klavier ist keine Begleiterin, sondern eine Partnerin auf Augenhöhe, drückt dem Orchesterklang ihren Stempel auf und erinnert daran, dass es das Klavier und die Gesangsstimme sind, die die Grundpfeiler dieser Komposition darstellen. Das Basel Sinfonieorchester unter der Leitung von Dennis Russell Davies punktet mit feinen Streicherklängen, sicheren Hörnern und einer gediegenen Gruppe von Schlagwerkern. Diesen besonderen Schubert von Heinz Winbeck auf der CD des Labels Sonus Eterna sollte man sich nicht entgehen lassen. Lebensstürme bietet einen neuen, überraschenden Blick auf die großen Stärken von zwei Komponisten: Schubert, seine Lieder und seine Klaviermusik, und Heinz Winbeck, und das, was er daraus gemacht hat.