CD LE COEUR ET LA RAISON – Das Vokal- und Instrumentalensemble LA NÉRÉIDE mit höfischen Airs de Cour/sérieux und deren geistlichen Umdeutungen von Clérambault, Lully, Lalouette, d’Ambruis, Lambert, de la Barre; Alpha
Liebeslieder für Nonnen: Frz. Vokalmusik für drei Sopranistinnen, Theorbe/Laute, Viola da Gamba und Orgel

Die Musikgeschichte ist doch manchmal ein echter Wichtel: Im 17. Jahrhundert erlebten die aus den Voix de Ville/Vaudevilles hervorgegangenen französischen Airs de Cour einen ungeheuren Aufschwung. Es handelte sich meist um strophische Liebes-, manchmal auch um Trinklieder, die an den Höfen für Kurzweil und Unterhaltung sorgten. Netflix gab es ja damals noch nicht.
Diese ein- oder mehrstimmigen Gesänge hielten nicht selten konkrete Botschaften in Form von amourösen Offenbarungen an bestimmte Personen parat oder erzählten von nicht erhörten Liebesbekundungen. Urheber und Begründer der Form war der Lautenist, Komponist und Verleger Adrien Le Roy, der mit seiner Catherine de Clermont, Duchesse de Retz gewidmeten Sammlung in adeligen Kreisen reüssieren wollte.
Dann gab es da noch den Franziskaner Pater François Berthod, der auf die geniale Idee verfiel, dass man doch den schönsten und ergreifendsten melodischen Eingebungen weltlicher Provenienz geistliche Texte unterlegen könnte. Zur höheren Ehre des Schöpfers. Gesagt, getan, veröffentlichte der umtriebige Pater Mitte des 17. Jahrhunderts seine drei Bände „Conversion de quelques des plus beaux Airs de ce temps an Airs spirituels“. Für Nonnen aus reichem Hause bestimmt, konnten sich diese mit nun an Gott adressierten Texten erlaubterweise an den reizvollen und sinnenfrohen Vokalpreziosen delektieren.
Da verführerische Gedanken an weltliche Liebe durch die neuen, religiös wohlgefälligen Texte der reinen Lehre nach nicht mehr aufkamen, hatten die Nonnen plötzlich Zugang zu den schwelgerisch-schwärmerischen Airs eines Jean-Baptiste Lully, Michel Lambert, Honoré d’Ambrius oder Sébastien Le Camus. Natürlich fanden diese Gesänge nicht Eingang in der Liturgie, sondern blieben der privaten Erbauung der „edlen Fräuleins“ vorbehalten. Der Autor und Musikverleger Pascal Duc beschreibt die Wirkung der geistlichen Kontrafaktur mit ihrer angestrebten Sublimierung der Gefühle so: „Von den Originalen bewahren sie die Natürlichkeit, die Vornehmheit, die Scharfsinnigkeit, und den Charme und damit vermögen die christlichen Tugenden besser in die Herzen derer einzudringen, die sie singen.“
Mit dem Album „Le coeur et la raison“ verband das Ensemble Néréide die fiktive Geschichte einer verarmten jungen französischen Adeligen. Diese pendelte zwischen ihrer geistlichen und musikalischen Erziehung bei den Demoiselles de Saint-Cyr in der Maison Royale de Saint-Louis und den knapp bemessenen freien Zeiträumen während ihrer Besuche bei ihrer Familie hin und her. Daheim hörte sie diese auf ganz besondere Art himmlischen Airs de Cour, die eine ganz andere Sprache führten als die auf Gott zentrierten Gedankenübungen im strengen Stundenplan des Klosters. Damit die von der jungen Novizin ins Koster getragenen Melodien zu frommen Meditationen transformiert werden konnten, textete sie Pater Berthod einfach um. Voilà!
Die drei Sängerinnen des Ensembles, Camille Allérat, Julie Roset und Ana Vieira Leite, interessiert die innere Zerrissenheit ihrer Protagonistin im Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein, „die Spannung zwischen Frömmigkeit und Leidenschaft, zwischen Innerlichkeit und Ausdruck, zwischen Herz und Verstand.“
Das Programm wird schwerpunktmäßig von den beiden fantastischen „Miserere“ Vertonungen des Louis-Nicolas Clérambault und Jean- François Lalouette dominiert. Denen stehen acht Airs de Cour/sérieux von Du Parc, Lully, de la Barre, Lambert, d’Ambrius und Le Camus gegenüber. Von den Zeitproportionen her spiegelt die ersonnene, der Kraft weiblicher Stimmen gewidmete Geschichte die gewählten Musikstücke kaum wider. Da hat man auf die Airs alleine, in welcher Textfassung auch immer, anscheinend nicht genügend vertraut. Dennoch darf sich die Hörerschaft an exquisit, solistisch oder in Ensembles vorgetragenen Melodien berauschen.
Besonders die beiden aus dem 18. Jahrhundert stammenden „Miseres“ für drei Stimmen und basso continuo lassen mit ihren betörenden Harmonien, den überaus kunstfertigen Verzierungen und den vielfältigen Stimmungsumbrüchen immer wieder aufhorchen. In den Airs wiederum kommen Liebesseufzer, überfließende Emotionen und deren schwierige Zügelung (Du Parc „Je ne sais pas ce que je sens“), die friedfertige Natur (Lully „L’âme contente dans sa solitude“ nach einem Text von Francois Berthod) oder die Qualen amouröser Erinnerungen („Je m’abandonne á vous“ von Sébastien Le Camus) zu schmachtendem Ton.
Die musikalische Interpretation durch die barockgetreu mit gerader Stimmführung kalibrierten Sopranistinnen Camille Allérat, Julie Roset und Ana Vieira, Miguel Henry (Theorbe, Laute), Salomé Gasselin (Viola da Gamba) und Emmanuel Arakélian (Orgel) lässt in ihrer expressiven Vielseitigkeit und erstaunlichen Homogenität keinen Wunsch offen.
Kostprobe: Clérambault ‚Miserere mei Deus, C. 116: II. Quoniam in iniquitatem meam‘ von La Néréide
https://www.youtube.com/watch?v=WV3HF87IEQs&list=RDWV3HF87IEQs&start_radio=1
Dr. Ingobert Waltenberger

