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CD KARL BÖHM dirigiert HINDEMITH und BRUCKNER, Gastspiele der Wiener Philharmoniker beim LUCERNE FESTIVAL 1964 und 1970; Audite

10.09.2021 | cd

CD KARL BÖHM dirigiert HINDEMITH und BRUCKNER, Gastspiele der Wiener Philharmoniker beim LUCERNE FESTIVAL 1964 und 1970; Audite

Karl Böhm in Luzern – Erstveröffentlichungen

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Karl Böhm war der Dirigent, der mich an der Wiener Staatsoper gleichauf mit Karajan und C. Kleiber am meisten faszinierte. Meine ersten Aufführungen von Così fan tutte, Le nozze di Figaro, Ariadne auf Naxos, Entführung aus dem Serail, Frau ohne Schatten und Elektra erlebte ich unter seiner Stabführung. Mag sein, dass – wie Uwe Schweikert das in seinem Aufsatz für das Booklet konstatiert – Böhm im Gegensatz zu Kleiber kollektiv fast schon vergessen ist. Für mich war er der bodenständige Dirigent, der trotz ärmelschonend beamtischem Flair dem Wiener Spitzenorchester bei R. Strauss eine magische Sinnlichkeit des Klangs, ein kulinarisches Flirren und Surren sowie eine dramatische Spannung/Wucht entlocken konnten, die kaum je eine/r so erreicht (hat). Als „betont sachlich“, wie ihn einige klischeehaft einstufen, empfinde ich seine Dirigate überhaupt nicht. Böhm war auch kein primär auf Klangwirkung fokussierter Perfektionist wie Karajan noch ein charismatischer Elektrisierer wie Kleiber. Hingegen sind „Natürlichkeit und Formsinn“ die zwei Atouts, die Schweikert Böhm in der Überschrift zumisst. Da ist was dran. Werktreue attestierten ihm außerdem verschiedene berühmte musikalische Wortvermesser. Eine Gabe besonders für „situationsbezogene Bühneneffekte“/das Dramolettartige auch im Sinfonischen, würde ich noch aus dem Bauch heraus ergänzen.

Ich finde, die minutiösen musikalischen Qualitäten im Feintuning, die Fähigkeit, Sängern Höchstleistungen abzuringen (hören Sie sich wieder einmal die vokal unüberbietbaren Bayreuth-Mitschnitte von „Tristan und Isolde“ oder des „Rings der Nibelungen“ an) und vor allem die zündend zupackende Theaterpranke des Karl Böhm können auch anhand seines einzigartigen diskographischen Vermächtnisses nachvollzogen werden. Es ist Zeit dafür, das eigene Archiv wieder zu entstauben oder wie mit dem geraden erschienenen Album noch Neues zu entdecken.

Bei den Internationalen Musikfestwochen in Luzern trat Böhm von 1960 bis 1978 regelmäßig auf. Bei neun der elf Konzerte waren die Wiener Philharmoniker seine Partner. Am 6. September 1970 leitete er mit ihnen Paul Hindemiths „Konzert für Holzbläser, Harfe und Orchester“. Es darf an dieser Stelle daran erinnert werden, dass Böhm 1958 auch die von der Besetzung her spektakuläre Wiener Erstaufführung von „Mathis der Maler“ mit Paul Schöffler, Anton Dermota und Lisa della Casa dirigierte.

Das viertelstündige Hindemith-Konzert in drei Sätzen war zwar ein Auftragswerk der Columbia University New York, Hindemith überreichte aber mit dem Zitat aus Mendelssohns „Hochzeitsmarsch“ zugleich seiner Frau zur Silbernen Hochzeit einen musikalischen Rosenstrauß. Böhm gelingt es, mit einer fantastischen Truppe an Solisten der Wiener Philharmoniker (Werner Tripp, Flöte, Gerhard Turetschek Oboe, Alfred Prinz Klarinette, Ernst Pamperl Fagott und Hubert Jelinek Harfe), der spröd klassizistischen Partitur Witz und Leuchten, charmante Soli und ätherische Harfenklänge zu entlocken wie kein anderer. Dass das Blech nicht den besten Abend hatte, geschenkt.

Der Mitschnitt von Anton Bruckners 7. Symphonie in E-Dur wurde genau sechs Jahre zuvor, am 6. September 1964, aufgenommen. Karl Böhm wird sicher nicht vorrangig als stilprägender Bruckner-Dirigent à la Jochum oder Celibidache in die Musikgeschichte eingehen. Böhm hat Bruckner sehr geschätzt und alle seine Symphonien (in den Fassungen von Haas, Orel oder Nowak) immer wieder im Konzert dirigiert. Eine komplette Studioeinspielung wird man vergeblich suchen (nur 3, 4, 7, und 8). Die Siebte Bruckner hat Böhm nochmals 1970 mit den Wiener Philharmonikern erarbeitet. Bei Audite ist außerdem Böhms Live-Einspielung der 7. Symphonie mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks aus dem Jahr 1977 erschienen.

Böhm musiziert diese Bruckner-Symphonie beinahe so, als wäre sie eine Wagner Oper – ohne liturgischen Überbau, organisch sanglich samt einer sich daraus abgeleiteten flotten Temporegie und einer der inneren Kohärenz des Dramas entsprechenden Artikulation. Da dringt der aus dem Volksglauben erwachsene Choral, der Kontrapunkt der Meistersinger, die Trauer und die menschliche Tragödie infolge des Ringtheaterbrandes vom 8.12.1881 stärker durch, denn das strukturell Monumentale. Das Adagio als Vorausahnung von Wagners Tod lässt Böhm in filigraner Schönheit erblühen. Die Streicher der Wiener Philharmoniker sind wieder einmal eine Klasse für sich.

Anmerkung: In Kooperation mit Audite präsentiert Lucerne Festival in der Reihe „Historic Performances“ Konzertmitschnitte prägender Festspielkünstler. Die Tondokumente stammen aus den Archiven des SRF Schweiz, das die Luzerner Konzerte regelmäßig überträgt. Sie sind klanglich erstklassig restauriert, mit informativen Booklets versehen, die durch Fotos aus dem Archiv von Lucerne Festival illustriert sind.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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